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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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über deine Eßgewohnheiten. Deinem Freund Jonas zufolge, selbst ein guter Esser, der nie ein Pfund zunimmt, hast du innerhalb von zwei Jahren viele Kilo abgenommen, indem du systematisch Mahlzeiten übersprungen und den Hunger durch Rauchen unterdrückt hast. Nimm den letzten Tag. Auf diesem nicht sehr gelungenen Fest im Vondelpark hast du am Nachmittag ein paar kleine Snacks stibitzt, und dabei ist es geblieben. Bei Goscha haben Dennis und du Bier getrunken, und später, im Club Trouw, waren, wie Goscha berichtete, die Runden kaum mehr zu zählen. An Essen wurde nicht gedacht.
    Vor Jahren machtest du in meinem Arbeitszimmer eine Runde an den Schreibtischen vorbei. Auf einem lag ein Manuskript mit dem Titel Voedzame honger (Nahrhafter Hunger). Du fragtest: »Was ist das, Adri, nahrhafter Hunger? Das kann man doch nicht essen, oder? Wie kann Hunger nahrhaft sein?«
    Ich erklärte dir, daß die Geschichte von Liebe handelt und daß Liebe Hunger gleicht, allerdings einem, mit dem man sich selbst und den Liebsten beziehungsweise die Liebste vollstopft. »Du kannst es auch so sehen … Wenn du ganz doll verliebt bist, vergißt du zu essen. Bei Liebeskummerwird das noch schlimmer. Du zehrst von den Reserven, bis du überhaupt keinen Hunger mehr spürst. Das ist gemeint, wenn es heißt, jemand verzehrt sich vor Liebe. Es höhlt dich aus.«
    Nach Mirjams Ansicht fehlt mir jedes didaktische Geschick, und mein kluger Vortrag wird dir auch heute nicht helfen. Ich weiß nicht, wie es dir mit deinen Gefühlen für Jenny geht, jedenfalls haben sie deinen Hunger nicht bis zu den ersten Tönen der Amseln unterdrücken können. Du stehst kurz vor dem, was wir vor vierzig Jahren einen »Freßkick« nannten. Der einzige dir bekannte Ort in Amsterdam, an dem er sich um diese Zeit befriedigen läßt, ist die Gegend um den Leidseplein mit all den Automaten und Shoarmabuden.
    Ein Festmahl ist nicht mehr drin. Du hast noch einen Fünfeuroschein in deinem grauen Portemonnaie, dazu eine ordentliche Handvoll Münzen.
    Die Eßlust könnte dich dazu bringen, doch noch kehrtzumachen, um bei uns den Kühlschrank zu plündern. Wie gesagt, mich kannst du damit nicht wecken, das hat mein rebellischer Magen bereits getan. Und deine Mutter, die schläft immer so tief, da muß dir schon ein Gurkenglas aus den Händen rutschen, wenn du sie wecken willst. Nur zu. Die Katzen werden dich beschnuppern und mit ihren dicken Schwänzen an deinen Waden entlangstreichen.
    Jetzt verstehe ich, warum du beinahe in die Paulus Potterstraat gebogen wärst. Vorläufig führen hier alle Straßen in nordöstlicher Richtung zum Leidseplein und zu den Snacks. Aus sentimentalen Gründen entscheidest du dich für die nächste Straße: die Jan Luijken, in der deine ehemalige Schule liegt. Der große Schulhof der Cornelis Vrij, verlassen in der klaren Nacht. Spürst du nicht die Versuchung, den Fuß für einen Moment auf der Bordsteinkante abzustellen? Auf diesem mit Steinplatten belegten Hof hast du dich rennend und schreiend ausgetobt. Du siehst deine damaligen Grundschullehrerinnen vor dir … die fröhliche Loes, die ein wenig geheimnisvolle Jeanine … Sie waren vernarrt in dich. In dem jetzt dunklen, unnahbaren Gebäude hast du lesen, schreiben, rechnen gelernt. Du hast dort ein Wikingerschiff gebaut und, als Dorus verkleidet, »Er wonen twee motten« zu Gehör gebracht. Auf diesem Schulhof hat Nachmittag für Nachmittag ein marokkanischer Junge auf dich gewartet, der dir, zunächst mit schönen Worten, später durch schnelles Zupacken, dein erstes Handy wegnehmen wollte.
    Etwas weiter die Straße hinunter hat Jakob gewohnt. Sein Vater lebt immer noch dort. Eines Nachmittags gab es ein Mißverständnis zwischen Mama und Oma Wies. Oma sollte dich an einem anderen Tag als sonst von der Schule abholen und dich zum Spielen zu sich in die Eemsstraat mitnehmen, denn sie war damals bereits aus der Lomanstraat ausgezogen, weg von Opa Natan. Eine von beiden mußte sich geirrt haben: Weder Mama noch Oma Wies erschienen. Jakobs Vater, der seinen Sohn abholen kam, hat noch eine ganze Weile mit dir gewartet.
    »Wo wohnt denn deine Oma, Tonio?«
    »In der Eenstraat, hab ich doch gesagt, zum Kuckuck.« Und immer heftiger: »In der Eenstraat, Joost, in der Eenstraat …!« Erinnerst du dich noch, Tonio, wie das damals ausgegangen ist? Offenbar gut: Wir mußten keinen AMBER Alert auslösen, oder wie hieß so eine Suchmeldung damals?
    Oh, du fährst weiter? Ich merke, daß ich noch immer

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