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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Straße aus der Zeit vor der Yuppie-Sanierung, nahm das Projekt Tonio Form an.
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    Gut, Goscha begleitet dich nicht nach De Baarsjes, und du gehst nicht mit in die Govert Flinck, um zu chillen. Nach den Worten Goschas, die ich ausdrücklich danach gefragt habe, fuhrst du nicht schlingernd von ihnen weg. Du fuhrst ganz normal, geradewegs auf die Ceintuurbaan. Ich stelle mir vor, daß du dich noch einmal winkend umgedreht hast: »Oi.« (Falls du nicht unterwegs noch jemandem etwas zugerufen hast, müßte das dein letztes Wort gewesen sein – eher ein Laut als ein Wort, als Abschiedsgruß: »Oi.«)
    Ich folge dir auf deiner letzten Fahrt. Ein paar Dinge sind mir noch unklar. Vielleicht kann ich sie beim Mitfahren klären, wenn ich dich genau im Blick behalte.
    Die Ceintuurbaan, die Schlagader meiner Jahre im Stadtviertel De Pijp. Die Kreuzung mit der Ferdinand Bol. Dieim Bau befindliche U-Bahnstation. Solltest du es dir anders überlegt haben: Hier kannst du nicht nachträglich noch rechts abbiegen, um dich in der Govert Flinck wieder zu Dennis und Goscha zu gesellen.
    Die Brücke über die Boerenwetering, und nach beiden Seiten die Hobbemakade mit den rot erleuchteten Schaufenstern der Huren. Hier ist die Nacht hoch und klar. Der Tag ist nicht mehr fern: Es wird ein herrliches Pfingstwochenende. Ich vermute, dir sind Huren genauso zuwider wie mir. Eine rettende Verzögerung ist von dieser Seite nicht zu erwarten.
    Die Roelof Hartstraat. Die Ampeln vor dem Roelof Hartplein blinken. Eigenverantwortung. Es ist fast kein Verkehr. Ab und an ein Taxi. Rechts das College Hotel, wo diese Proleten von Betreibern die Bäume abgeholzt haben. Nach links geht der Platz in die Beethovenstraat über. An der einen Ecke die öffentliche Bibliothek, in der du dir früher mit Mirjam Bücher ausliehst. An der anderen Ecke Huize Lydia, in das du als kleines Kind mit deinen Großeltern gingst, als dort noch das Gemeindehaus untergebracht war (Opa Natan fungierte als dessen Schatzmeister).
    Auch in der Van Baerlestraat sind bei der jüngsten »Neuprofilierung« Bäume gefallen. Städtische Sünden sind es jedoch nicht, die dich jetzt beschäftigen, während du auf Jims Fahrrad unter dem Laternenlicht weiterfährst. Noch ein ganzes Stück bis in die Nepveustraat. Du bist müde nach zwei Nächten ausgiebigen Feierns. Trotz aller Euphorie der vergangenen Tage, den Phantasien zu Jenny, den Visionen vom kommenden langen Wochenende, bist du mutterseelenallein auf dem Weg nach Hause – ein Gedanke, der eine matte Melancholie über alles legt.
    Du fährst an der Kreuzung Van Baerle/Nicolaas Maes vorbei. Dort an der Ecke wohnt mein Kollege K. Schippers. (Ich habe dir seinen Roman über Fotografie geschenkt.) Einmal redete ich nach deinem Gefühl zu lange auf dem Gehweg vor seinem Haus mit ihm. In deiner Ungeduld oderum die Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen, schlüpftest du unter den hinteren Schoß meines langen Regenmantels, der nicht zugeknöpft war. Wenn du ein bißchen zurückgingst, verwandelte ich mich in eine Variante des Zirkuspferds, eine Art ungeschlachten Zentauren. Die Vorstellung, die du da, zu meiner Verlegenheit, zum besten gabst, wußte Schippers als Liebhaber von Clowns und Stofftieren durchaus zu goutieren.
    »Wenn du halb Mensch, halb Pferd bist, darfst du ungestraft auf der Straße pissen …«
    Fünfzehn Jahre ist das bestimmt her. Du näherst dich der Kreuzung vor dem Concertgebouw. Hinter den Gebäuden zu deiner Linken, zwei Häuserblocks tiefer in die De Lairessestraat hinein, verläuft die Jacob Obrecht. In dem großen Apartmentgebäude Huize Oldehoeck hast du die ersten eineinhalb Jahre deines Lebens verbracht – die kostbare Zeit, an die du keine Erinnerungen hast (ich um so mehr). Mir fällt auf, daß du auf deiner letzten Fahrradfahrt in der Nähe der Häuser deiner Kindheit bleibst. Du fährst, ein wenig schlingernd, zwischen den Bildern und Szenen deiner frühesten Jahre hindurch. Wirf mal einen Blick nach rechts, auf den Museumplein. Du weißt besser als ich, wo der Treffpunkt der Jugendlichen war, als die älteren Jungs dich zum erstenmal rauchen ließen. Du hoffst insgeheim, daß die niederländische Nationalelf im nächsten Monat weit kommt – nicht, weil du dir so viel aus Fußball machst, sondern wegen der zu erwartenden Festivitäten hier auf dem Platz.
9
     
    Beim Concertgebouw, das weiß ich, mußt du immer kurz an deinen Jugendfreund Jakob denken, der vor zehn Jahren an der Ecke Van Baerle/De Lairesse

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