Tonio
versuche, etwas an dem Zeitplan zu verrücken. Eine Sekunde hier, eine Sekunde da. Du radelst jetzt am Haus von Joost und Jakob in der Jan Luijkenstraat vorbei. Nach der Theateraufführung zum Abschluß der Grundschule kam man hier noch einmal zusammen. Während die Eltern ein Glas im Wohnzimmer tranken, zogen sich Jakob und du und eure Klassenkameraden ins Souterrain zurück. Dort war es entgegen allen Erwartungen so ruhig, daß eine der Mütter, vielleicht die von Afra, nach einiger Zeit hinunterging, um die Lage zu sondieren: ob die ganze Bande nicht wegen Sauerstoffmangels in den letzten Zügen lag. Die Frau kam fassungslos zurück.
»Die sitzen da und heulen. Alle.«
Von diesem Moment an stieg regelmäßig ein Grüppchen Mütter hinunter. Sobald die Tür aufging, war das Geplärre über das Stimmengewirr der Erwachsenen hinweg zu hören, denn es wurde immer schamloser geflennt. Mirjam kehrte bleich aus dem Souterrain zurück.
»Unglaublich, dieses Geschluchze«, sagte sie. »Ich habe noch nie so viel Kinderkummer auf einem Haufen gesehen.«
»Tonio auch?« fragte ich.
»Ja, was dachtest du denn? Es ist ihnen klargeworden, daß sie sich vielleicht nie mehr wiedersehen. Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, jedenfalls haben sie sich jetzt alle gegenseitig angesteckt.«
Von Zeit zu Zeit trieb eine Mutter ihr großes Kind vor sich her ins Wohnzimmer, wo es sich mit rot verheultem Gesicht abkühlen sollte, bevor es sich erneut in die Heulorgie da unten stürzen durfte. Als Mirjam fand, es werde Zeit, mit Tonio nach Hause zu gehen, verabschiedete er sich mit einem vom langen Weinen erschlafften Gesicht von mir. Ein Lächeln brachte er nicht mehr zustande. Es war ernst.
11
Sitzt du jetzt grinsend auf dem Rad bei der Erinnerung an diese Heulorgie? Oder stimmt sie dich melancholisch, weil die Zeit seitdem euch mit eurem Kellergeschniefe so bitter recht gegeben hat? Das war der Abschied. Von diesem Souterrain schwärmtet ihr über die verschiedenen Lyzeen und Gymnasien der Stadt aus. Du bist im Laufe der letzten zehn Jahre gelegentlich einem Klassenkameraden von der Cornelis Vrij begegnet, aber das waren meist verlegene Konfrontationen. Die alte Vertrautheit war im Keller der Familie Nijsen zurückgeblieben.
Am Ende der Jan Luijken ragt zu deiner Rechten wuchtig und dunkelrot das Rijksmuseum in der Nacht auf. Es hat dich immer fasziniert, daß die größten und kostbarsten Schätze der Stadt dort ungesehen im Dunkel hängen, der Gnade eines seelenlosen Sicherheitssystems ausgeliefert.
Nach links in die Hobbemastraat. Die Fahrbahn glitzert von Glaskörnern, als wäre das Pflaster ein Spiegel des Sternenhimmels über dir, doch du bist zu müde, den Kopf zu heben und den Blick nach oben zu richten. Statt dessen siehst du für einen Moment die Stände vor dir, die hier beim Büchermarkt vor ungefähr zehn Jahren auf beiden Seiten der Straße aufgestellt waren. Du hast damals gemeinsam mit mir am Stand meines Verlags signiert.
»Wenn wir jetzt endlich mal Ernst machen mit Reis in een boom (Reise auf einem Baum), Tonio, dann können wir nächstes Jahr wirklich ein Buch von uns zusammen signieren.«
»Gut, du Reis in een boom . Ich Rijst in een boom (Reis auf einem Baum).«
Diese Diskussion führten wir nicht zum erstenmal. Du mußtest wieder laut darüber lachen, aber ich denke, wir dürfen die Tatsache, daß unser Projekt unvollendet blieb, inzwischen endgültig auf unsere langandauernde Uneinigkeit in bezug auf den richtigen Titel zurückführen. »Ja, aber Adri … wenn dieser Junge auf einem Baum reist, muß er doch auch essen .«
Dir steht der Kopf jetzt nicht danach, nicht einmal nach Reis, sondern du lechzt nach einem Döner-Kebab vom Türken. Als du bei Dixons gearbeitet hast, war das dein Lieblingsmittagessen – Shoarmabuden genug im Kinker-Viertel.
Zwischen den Straßenbahnschienen der 2 und der 5 fährst du schnurstracks auf dein Ziel zu. Du kommst an dem Ledergeschäft vorbei, wo wir gemeinsam das rotbraune Taschenset zu Mamas vierzigstem Geburtstag kauften. Mit deinem erlesenen Geschmack triebst du die Kosten gewaltig in die Höhe. Mehr noch als Geschenke zu erhalten liebtest dues, sie zu überreichen. »Mama möchte bestimmt auch so eine Toilettentasche … nicht, Adri? Schau, das gleiche Leder. Und hier, dieses Köfferchen, auch das gleiche Leder.«
Nein, das Ledergeschäft löst heute nacht nichts bei dir aus. Deine Gedanken verengen sich auf Jenny und Döner-Kebab. Die Ampeln am
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