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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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sehen: ungefähr über dem Rijksmuseum, dessen Lage durch das asymmetrische Kreuz eines hohen Krans angegeben wurde. Der Hubschrauber ging weder höher noch tiefer, flog auch nicht weg, sondern blieb hängen, wo er hing, wie ein rüttelnder Vogel am stahlblauen Himmel, allenfalls leicht schaukelnd.
    »Wenn du Gesellschaft brauchst …« sagte ich. Ein paar Sekunden später war sie oben. Ich hing noch aus dem Fenster. Der Helikopter flog jetzt in unsere Richtung, langsamer als ein Polizeiheli, machte einen ziemlich scharfen Schwenk Richtung Amsterdam-West und kehrte dann zu seiner Ausgangsposition über dem Rijksmuseum zurück, um dort von neuem eine Weile rüttelnd in der Luft zu stehen.
    »Der ist da auf stand-by, denke ich. Er wartet auf Instruktionen. Dort unten wird wohl ein Rettungswagen sein.«
    Ich tröstete Mirjam mit der Überlegung, daß Tonio auch durch den Einsatz eines Rettungshubschraubers, sofern dieser nachts hätte fliegen dürfen, nicht zu helfen gewesen wäre. »Er war in guten Händen. Ein zusätzlicher Rettungswagen mit einem Notfallteam war statt des Hubschraubers da. Der Junge hatte einfach nicht die leiseste Chance.«
    Nein, darum gehe es nicht. Das Geräusch der Rotorenhabe sie geweckt, und dann habe sie den Rettungsheli dort in der Luft stehen sehen, genau über Dem Ort, als wolle ihr jemand einschärfen, daß der Alptraum nach dem Wachwerden nach wie vor da sei. »Es geht schon wieder.«
    Als ich später unten ins Wohnzimmer kam, saß Mirjam unbequem auf der Couch, ein Bein hochgezogen und den Kopf nach hinten gekippt. Rotgeränderte Augen starrten ins Leere. »Ich vermisse ihn so«, flüsterte sie ein ums andere Mal. Ihr Kopf rollte langsam, in einer Art resignierter Leugnung, auf der Rückenlehne hin und her. »Ich vermisse ihn so schrecklich … es ist einfach unfaßbar …«
    In solchen Augenblicken wußte ich keine andere Antwort, als ihre kalte Hand festzuhalten, bis sie warm wurde und sie die Hand zurückzog, weil ich zu fest drückte.
17
     
    Meine Selbstbezichtigung beschränkt sich nicht auf Tonios grauenvolles Ende. Ich habe es auch Mirjam zugefügt. An ihrem zwanzigsten Geburtstag habe ich, eine Flasche Whisky unter dem Arm, begonnen, ihre Jugend zu stehlen. Später habe ich ihr ein Kind gemacht, und damit gehörten ihre Jugendjahre endgültig der Vergangenheit an.
    Ich habe ihr nicht nur ein Kind gemacht, sondern ihr auch den Tod gebracht. Ich hatte ihr geschworen, daß ich das Kind mit meinem eigenen Leben, notfalls mit meinem toten Körper, beschützen würde. Ich habe meinen Eid nicht halten können. Der Junge ist mir aus den Händen geglitten.
    Ihr Leben als Mädchen ist vorbei, und ihr Leben als Mutter ist vorbei. Es ist ein Wunder, daß sie ihr Leben als Frau an meiner Seite fortsetzen will.
18
     
    Eine Nikolausfeier im Arti. Endlich, fast als letzter, wurdest du vom Nikolaus auf das Podium gerufen. Du standst noch nicht ganz vor ihm, da begannst du schon, auf dem roten Teppich im Kreis herumzuhüpfen, wobei du dem Heiligen den Rücken zukehrtest. Du tanztest komisch und steif, mit wedelnden Händen, die sich fast wie kleine Propeller drehten. Deine Augen suchten mich. Ich saß an der Bar.
    »Ich muß kacken«, riefst du mir zu. Um die Situation noch irgendwie zu retten, zogst du die Miene eines Idioten. Nikolaus schaute sprachlos zu. Ich habe dich selten so geliebt wie in diesem Moment.
    Ich bat Ria hinter der Bar um den an einem Stück Holz baumelnden Schlüssel und zog dich vom Podium.
     
    Kein Zweifel, ich liebte ihn, vom ersten bis zum letzten Tag. Sooft ich es auch zu seiner Mutter sagte (»Wie ich diesen Jungen liebe«) oder insgeheim zu mir selbst, es war vor allem eine unausgesprochene, selbstevidente Liebe. Dafür mußte kein Beweis erbracht werden. (Ich hatte gelegentlich Visionen von einem Gott, der mir auftrug, Ihm meinen Sohn zu opfern. Ich war bereit, an einen solchen Gott zu glauben, aber nur, um Ihn zum Narren zu halten und so Tonio zu verschonen.)
    Der legitime und überzeugende Beweis meiner Liebe zu Tonio wurde, ungefragt, durch seinen Tod erbracht. Das eiskalte schwarze Loch, in das sich meine Welt von einem Moment zum anderen verwandelte, bewies, wie sehr ich ihn liebte.
     
    Seit Pfingsten sprechen Mirjam und ich über Tonio überraschend konsequent im Imperfekt und Plusquamperfekt. Nur das »Ich liebte ihn« bekomme ich nicht über die Lippen, und sogar meine Feder läßt sich kaum dazu zwingen. Ich kanndie empörende Vergangenheitsform

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