Tonio
natürlich durch »… wie sehr ich ihn liebe« ersetzen, doch das bringt mich dann wieder in die Versuchung hinzuzufügen: »So wie er war .«
Meine Liebe zu ihm ist noch immer da, und zwingender als je zuvor. Sprachlich stimmt das hinten und vorn nicht. Wenn ich trotz allem sage: »Ich liebe ihn«, wer ist dieser ihn dann? Tonio gibt es nicht mehr als er . Es hat ihn gegeben, und ob, in dem, was jetzt Vergangenheit ist. Dennoch liebe ich ihn, wie ich ihn zuvor geliebt habe.
Meine Liebe ist echt und aufrichtig, muß jedoch ohne Objekt auskommen. Es ist eine Liebe, wie wahnsinnig auf der Suche nach dem unfindbaren Geliebten. Der Redakteur einer Talkshow riet seinen Mitredakteuren einmal ab, mich als Gast einzuladen: »Der macht sofort eine Dose alter Griechen auf.« Wo diese Dose schon mal offen ist: Die alten Griechen konnten sich wenigstens noch an den Mythos von Orpheus und Eurydike klammern. Das Wunder der ganz großen Ausnahme – dank der Gnade der Götter. Ich muß mich mit einer Liebe begnügen, die im Präsens umherirrt, vom Geliebten für immer im Imperfekt getrennt.
Wenn schon die Sprache sich so querlegt, was erwarten wir dann von dem Versuch, Tonio in Worten am Leben zu erhalten?
19
Von einer Geliebten verlassen zu werden, von der Frau deines Lebens, selbst dagegen hatte ich mich schon vor langer Zeit gewappnet. »Ohne Narben geht das nicht«, wie ein Kollege einmal sagte. Ich war auf die Scham eines solchen Verlassenwerdens vorbereitet. Alle Liebe zu jemandem, der einfach die Tür hinter sich zuschlug … Verschwendung von so viel Sehnen … Gut, das alles konnte verblassen. Die Zeit tat ihr Werk.
Gegen den Verlust meines Sohnes hatte ich mich allenfallsdadurch gewappnet, daß ich die Angst ein Bündnis mit meiner Phantasie schließen ließ. Daß ich ihn wirklich verlieren könnte, damit hatte ich nie gerechnet. Ich hatte mein Vorstellungsvermögen, gespeist von Furcht, walten lassen – das Werk der Beschwörung.
Jemand hatte mich verlassen, mein eigener Sohn, ohne daß meine Liebe zu ihm verblassen könnte . Die Zeit würde mich lehren, was Sehnsucht war. Ein geliebter Mensch, der einen im Stich ließ, konnte Schmerz in Haß verkehren. Beim Verlust eines Kindes war das unmöglich. Ich lief umher wie ein bis ins Mark betrogener Liebhaber, in dem die Liebe immer noch wächst und wächst.
KAPITEL VII
Der Pantonionismus
1
In Brüssel war seine Liebe zu Steinen entstanden. Mitte der neunziger Jahre besuchte Mirjam mit Tonio ihre Freundin Lot in Brüssel, wo sich der Junge in ein Buch des Hausherrn über Mineralien und Halbedelsteine vertiefte. Daheim quengelte er nach einem Abonnement für eine Zeitschrift für Steinesammler. In jeder Stadt, in die wir kamen, schwatzte er uns eine Handvoll besonderer Gesteinsarten ab. Bald hatten sie keine Geheimnisse mehr für ihn. Er entwickelte ein untrügliches Gedächtnis für Arten, Farben, Namen.
Einmal hörte er, wie ich mit Mirjam über einen noch zu entwerfenden Buchumschlag sprach, für dessen Fond ich mir Nachtblau vorstellte, das ich unter den Mustern eines Farbengeschäfts aber nicht finden konnte, und auch sonst nirgendwo. Tonio verschwand in sein Zimmer, kam kurz darauf zurück und öffnete seine geballte Hand vor mir. »Meinst du vielleicht das?«
Mir leuchtete ein Stein vom schönsten Blau entgegen. Strenggenommen vielleicht kein Nachtblau, aber noch brauchbarer als das, was ich suchte. Ich nahm den Stein in die Hand.
»Was ist das?«
»Lapislazuli«, rief er lachend. »Lapislazuli natürlich. Nix sonst als Lapislazuli.«
Dazu tanzte er triumphierend herum. Er durfte mit inden Verlag, wo er den Lapislazuli aus einem Staubtuch auswickelte. Er paßte mit strahlender Miene genau auf, welche Wirkung sein Zauberstein auf den Verleger und dessen Mitarbeiter hätte.
»Lapislazuli«, rief er lachend. »Für Adris Buch.«
Leider gelang es nicht, diese besondere Farbe als Buchumschlag drucken zu lassen. Bei jedem Probedruck, den ich erhielt, rückte Tonio mit seinem Stein an. Die Umschlagfarbe ähnelte ihm nicht entfernt.
»Weißt du, was«, sagte Tonio, »du mußt lauter Farbfotos davon machen, und dann schneidest du auf jedem Foto den Lapislazuli aus … und dann klebst du die ganzen Lapislazulisse nebeneinander auf dein Buch. Ganz einfach.«
Bei einem Umbau des Wohnzimmers, ‘97, ließen wir zwei Vitrinen zu beiden Seiten des offenen Kamins einbauen: eine für Mirjams Sammlung venezianischer Masken, die andere für Tonios
Weitere Kostenlose Bücher