Tonio
dahinsegelnden Wolken endgültig gewichen, denn der schlimmste Wind hat sich gelegt.
Als ich die Straße zum Auto überquere, merke ich erst, daß die Gicht in meinen linken Fuß zurückgekehrt ist. Ich gehe so wenig, außerhalb des Hauses schon gar nicht, daß der Schmerz mir bisher nicht aufgefallen war. Daß Podagra durch den Genuß von rotem Fleisch und rotem Portwein verursacht wird, wurde vor kurzem in einer Wissenschaftsbeilage ins Reich der Fabel verwiesen. Mit rotem Fleisch und rotem Portwein kann man mich ohnehin nicht locken, mit farblosen Getränken dagegen schon, und die scheinen tatsächlich eine Rolle bei der Bildung schmerzhafter Kristalle in den Gelenken zu spielen. Wage ich mich nach Wochen endlich mal vor die Tür, sehen alle Nachbarn mich zum Auto humpeln.
»Du hinkst ja«, sagt Mirjam, die schon hinter dem Lenkrad sitzt.
»Ich verlern das Laufen, das ist es.«
Die Cornelis Schuytstraat. Der Willemsparkweg. Der Koninginneweg … Die Straßen sind tatsächlich mehr als voll vom Freitagsverkehr, aber es kommt zu keinem Stau. Nur vor der großen Kreuzung mit dem Amstelveenseweg müssen wir uns wegen der sich nur langsam vorwärtsschiebenden Autoschlange vor uns vier Grünphasen lang in Geduld fassen.
Am Ende der Zeilstraat fahren wir auf eine hochstehende Zugbrücke zu. Darüber tummeln sich so viele durcheinanderflatternde Möwen, daß man meinen könnte, sie wären gerade aus einem großen Karton entwischt, von dem noch eine Seitenklappe hochsteht. Es dauert lange, bis sich die Fahrbahn wieder senkt.
»Ich bin gespannt«, sagt Mirjam, »wie weit sie sind. Ich habe sie gebeten, mit den Buchstaben noch ein bißchen zu warten. Im Computer sah es gut aus, aber wir müssen es doch mal mit eigenen Augen sehen.«
»Hast du auf den Bindestrich geachtet?«
»Es sollte doch gerade ohne Bindestrich sein …«
»Ohne Bindestrich, ja. Aber hast du es auch kontrolliert?«
»Jetzt wo du‘s sagst. In meinem Kopf ist immer noch so ein Durcheinander. Ich frag mich, ob das je wieder in Ordnung kommt.«
»Macht nichts.«
Die Schranke hebt sich ruckend. Wir fahren über die Schinkel auf den Hoofddorpplein zu. Als wir unter der A 10 durchfahren, nach Slotervaart hinein, sagt Mirjam: »Das ist dieselbe Strecke wie am Tag von Tonios Geburt, in dem kleinen Auto der Hebamme. Achtung … hier links, das Antoni van Leeuwen … dahinter das Slotervaart-Krankenhaus. Dort ist er geboren.«
Ich bin seit dem fünfzehnten Juni 1988 nicht mehr hiergewesen, erkenne das Gebäude aber sofort wieder. Mirjam hatte sich an jenem Morgen so auf ihre Wehen konzentriert, weshalb sie erst in der Eingangshalle merkte, daß sie nicht im Krankenhaus ihrer Wahl (dem VU ) war. Tonio wurde nie müde, sich diese Geschichte anzuhören.
»Tut mir leid, Mädel, tut mir leid«, rief die Hebamme in einer Tour. »Meine Schuld. Blöd. Tut mir leid.«
Es war klar, Tonio, daß von Umkehren keine Rede mehr sein konnte. Die Hebamme schob den Rollstuhl mit der stöhnenden Mirjam durch die Halle zum Aufzug. Dein Vater ging leicht schwankend mit, eine Hand im Nacken deiner Mutter. Das falsche Krankenhaus. Mirjam ein schlaffes Wrack im Rollstuhl. Das konnte nicht gutgehen.
»Aber es ging doch gut«, jauchzte er dann. »Sieh mich bloß an.«
3
Von der Plesmanlaan nach rechts in die charakterlose Einförmigkeit Osdorps.
»Die Jan Rebelstraat«, sagt Mirjam. »Schau mal auf die Karte. Ich bin einmal mit Nelleke dort gewesen, aber das warwie Schlafwandeln. Es ist in der Nähe vom Friedhof Westgaarde.«
In einem nordwestlichen Zipfel von Osdorp finde ich die Jan Rebelstraat, tatsächlich nicht weit vom Friedhof entfernt.
»Hier nach links.« Ich bin wieder so nervös wie mittags im hektischen Streiflicht des herbstlichen Sommerhimmels. »Da ist es.«
Mirjam hält vor etwas, was wie eine normale Schaufensterscheibe aussieht. GEBR. LIEFTINK STEINMETZE SEIT 1913 .
»Wart mal.« Mirjam dreht den Zündschlüssel herum und schließt die Augen. »Hilf mir, ein bißchen Mut zu sammeln.«
Ich schnalle ihren Sicherheitsgurt los und ziehe sie an mich. »Denk an das vorige Mal, Minchen, als du mit Nelleke hier warst. Da hast du dir vorgestellt, du wärst im Gartenzentrum … um etwas für unsere Veranda auszusuchen. Ein Schnäppchen. Etwas Günstiges im Ausverkauf.«
»Die Zeiten haben sich schon wieder geändert«, flüstert sie. »Es ist jetzt schwieriger.«
Auch die mit einer Glocke versehene Tür erinnert an die eines altmodischen Feinkostladens.
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