Tonio
können, ließ sich vorweg mit physikalischer Wahrscheinlichkeit berechnen. Die Zerstörung, die sie letztendlich bewirkten, konnte im nachhinein mit physikalischer Gewißheit festgestellt werden.
Tonios Tod ließ sich, was Sinn und Ziel anbelangt, auf eine physikalische Formel reduzieren. Unser Entsetzen war um so größer, als sich herausstellte, daß die Sturzflut unserer Gefühle auf eine eiskalte Formel stieß, hart wie Stein. Es gibt keine Garantie dafür, daß Emotionen auf die Dauer nicht auch den härtesten Stein aushöhlen.
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In Asbestemming , dem Requiem für meinen Vater, beschreibe ich die Skulptur eines heiligen Sebastian, der in einer Art Todessprung vom Pfeilregen getroffen wird. Es sind dicke, ganz aus Gußeisen angefertigte Pfeile, die den Rumpf des Heiligen in einem exakt geometrischen Muster treffen: als würden sie in ihrer Gesamtheit eine quadratische Egge bilden, die in ganzer Länge und Breite in den Brustkorb des Märtyrers gerammt wird.
Genau so, Tonio, wird für den Rest meiner Tage, immer wieder von neuem, dieser verhängnisvolle Unfall in mich einschlagen. Mein Gott, lieber Junge, warum mußte das geschehen? Warum mußte das dir und uns widerfahren? Warum, Herrgott noch mal, mußte alles zerstört werden – du, wir, die Zukunft, alles?
Manchmal nehme ich es dir einfach, schroff gesagt, übel. Etwas früher nach Hause, ein paar Pils weniger, Beleuchtung am Fahrrad, auch mal nach links schauen … und es wäre nicht passiert. Du kleines Arschloch. Du hattest Jenny an jenem Samstag über Facebook wissen lassen, du seiest noch »fertig« vom Abend zuvor. Fertig – dein Lieblingswort für verkatert. Fühltest du dich daraufhin nicht verpflichtet, dich mal richtig auszuruhen? Ihr wolltet »die Stadt unsicher machen«, wie Goscha erzählte. Kann man wohl sagen, die Stadt unsicher machen – aber doch vor allem für dich selbst, Blödmann.
Warum das? Warum dieser unwiderrufliche Tod, an dem sich nichts mehr korrigieren läßt? Herrgott noch mal, Tonio, ich wäre bereit gewesen, jedem Problem bei dir ins Auge zu sehen, mochte es noch so schrecklich sein. Deine allerschlimmste Misere wäre noch ein würdiger Gegner für mich gewesen. Bis zu meinem letzten Schweiß- und Blutstropfen hätte ich für eine Lösung gekämpft. Alles für dich.
Das Problem ist: Dein Tod ist kein Problem, denn eine Lösung ist nicht möglich – nicht einmal eine von vornherein aussichtslose.
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Nein, ich nehme alle Schuld auf mich. In deinem grundwassertiefen, atemlosen Schlaf machst du mir keine Vorwürfe. Deine Reglosigkeit an sich ist eine große Beschuldigung an meine Adresse, auch ohne daß du das willst, denn du hast nichts mehr zu wollen. Dein Tod sagt die Wahrheit über mein Versagen. Dein Tod ist die Summe meiner Fahrlässigkeiten. Ich lasse die Möglichkeit offen, daß dein Tod die Folge dieser einen Fahrlässigkeit ist – keine Ahnung, welcher –, was alles noch schlimmer machen würde.
Eine Kindheit und Jugend lang habe ich dich mit kleinen und großen Aufmerksamkeiten, fürsorglichen Gesten, beruhigenden Worten bedacht. Es wiegt das alles durchdringende nachträgliche Empfinden von Schuld und Fahrlässigkeit nicht auf. Wenn es mir schon nicht gelungen ist, die Bedingungen für deine sichere nächtliche Fahrt von De Pijp nach De Baarsjes zu schaffen, dann hätte ich zumindest dort sein müssen, auf halber Strecke, um mich vor das feindliche Fahrzeug zu werfen und es so zum Stoppen zu zwingen. Ein rebellisch kollernder Magen allein bietet zu wenig Gegengewicht.
Ich erkenne meine Niederlage an, der ich bis in alle Ewigkeit nichts entgegenzusetzen habe.
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Für Mirjam sind die Sonntage am schwersten. Der Schmerz macht sich dann am heftigsten bemerkbar – natürlich weil sich der große Verlust am Pfingstsonntag ereignete, aber auch weil Tonio, wenn er bei uns vorbeischaute, das meist amSonntag tat. Heute nachmittag, gut drei Monate nach dem Unglück, rief sie in Panik an.
»Da ist ein Rettungshubschrauber über der Hobbemastraat.«
Am Morgen um fünf Uhr aufgestanden, hatte sie bis halb zehn gearbeitet und war dann mit einem Buch in der Hand gegen Mittag im Bett tief eingeschlafen. Gerade wurde sie von pulsierenden Rotoren aus pechschwarzen Träumen geweckt.
Das Telefon ans Ohr gedrückt, öffnete ich auf der Straßenseite ein Fenster meines Arbeitszimmers. Wenn ich mich weit genug hinauslehnte, konnte ich im Nordosten tatsächlich einen gelben Hubschrauber mit rotblauen Streifen
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