Tonio
Steinsammlung. Die kleineren Stücke bewahrte er in Schaumstoffpuderquasten, die in durchsichtigen Hartkunststoffdosen untergebracht wurden. Dazwischen standen, auf Glasregalen, die großen Mineralbrocken. Er schleppte jeden Besucher zu seinem Schrank.
»Dieser bläuliche Stein da, Tonio, wie heißt der?«
»Der sieht nur aus wie blau. Durch das Licht. Er ist grau. Ein Labradorit.«
Und dann blickte er kopfschüttelnd zu Mirjam oder mir. Wie konnte man nur so unwissend sein.
In einer kleinen Stadt auf Sizilien fand Tonio (denn in bezug auf Steine schien er wie radargesteuert) einen vergessenen, staubigen kleinen Laden, in dem eine alte schwarzgekleidete Frau, runzlig wie ein vertrockneter Apfel, über eine Vitrine mit Mineralien und versteinerten Seepferdchen wachte. Während wir auf einer benachbarten Terrasse im Schatten eiskalten, fast roten Rosé tranken, stöberte Tonio in dem Laden herum. Jedesmal, wenn er mit seiner Neuanschaffung an unseren Tisch kam, setzte er seine jämmerlichste Miene auf: »Die haben da auch noch einen Achat. Einen einzigen. Gar nicht so furchtbar teuer.«
Wenn ich ihm dann noch etwas Geld gab, stieß er einen höhnischen Triumphschrei aus. Er betrachtete jedes Geschenk als Sieg über die Zurückhaltung seiner Eltern aus erzieherischen Gründen. Die übrigen Gäste hatten allmählich ihre helle Freude an ihm, wie er uns auftrug, auf die herbeigeschleppte Beute aufzupassen, um dann mit einer Handvoll frisch abgeschwatzten Geldes wieder in den kleinen Laden zu rennen, als habe er Angst, andere Käufer, die von Steinen natürlich nicht den blassesten Schimmer hatten, könnten ihm zuvorkommen.
Nach zehn Minuten war er wieder da. Die alte Frau hatte den Achat eingepackt und ein blaues Band darumgeschlungen, wie die sizilianischen Bäcker es bei Gebäck machten. Tonio riß das Papier fingerfertig auf. »Schaut mal, wie schön dieser Manganabdruck ist …« Er sprach wie ein Artikel in seiner Lieblingszeitschrift, mit tiefer Stimme. »Die Nerven da … und das hier, das ist ein Dendrit. Wie ein kleiner Weihnachtsbaum, nicht, Mama?« Und nach einer kurzen Pause, mich in schuldbewußter Verzweiflung ansehend: »Die alte Frau hat mir auch noch ein paar Jaspisse gezeigt. Es sind die letzten. Rote und grüne. Die sind, glaub ich, nicht ganz so billig.«
»Das Geld ist alle.«
»Ja, das versteh ich ja, aber …«
Heute gehen Mirjam und ich selbst in ein Geschäft, um einen Stein für Tonio zu kaufen. Den letzten für seine Sammlung, mit Inschrift.
2
Zwei Uhr nachmittags. Ein ständiger Wechsel von Sonne und windgetriebenen Wolken macht mich schon mein ganzes Leben lang nervös (die gleiche Witterung wie an dem Samstag, als mein Vater mit seinem Moped in einen Graben fuhr und vom Rettungswagen zu Hause abgeliefert wurde, unerkennbar durch eine Maske aus geronnenem Blut), aber heute ist es schlimmer denn je. Um fünf sollen wir beim Steinmetz sein. Ich ziehe die Vorhänge zu als Schutz gegen das Streiflicht der Sonne und reiße sie wieder auf, wenn es kurzfristig dunkel wird.
Von Arbeiten kann keine Rede sein. Um drei Uhr beschließe ich, mich schon mal zu duschen und zu rasieren, alles ganz sorgfältig und in Ruhe, dann stehe ich nachher wie aus dem Ei gepellt bereit, wenn Mirjam mich holt. Beim Anblick meines Bettes, auf dem Weg zum Bad, merke ich, wie müde ich bin. Um zu Kräften zu kommen, lege ich mich hin und greife zum erstbesten Buch, das ich auf der Bettumrandung finde: ein kleines Werk über Shakespeare. Es weiß unter anderem zu vermelden, daß im Œuvre des großen Barden fast sechzehntausend Fragezeichen vorkommen. Als ich mich, einen Zeigefinger zwischen den Seiten, dösend frage, ob das viel oder wenig ist bei knapp vierzig Theaterstücken, streckt Mirjam den Kopf um die Tür.
»Ich möchte spätestens um Viertel nach vier los«, sagt sie gehetzt. »Stell dir vor, wir geraten in den Freitagnachmittagsstau.«
Duschen, Haarewaschen, Rasieren – der Gedanke erfüllt mich mit Widerwillen. Ich bleibe bis kurz nach vier im Bett liegen, nicht einmal lesend und ohne eine Antwort auf das Problem der sechzehntausend Fragezeichen zu finden. Als ich aufstehe, reicht die Zeit gerade noch, mir irgendwas überzuziehen. Ich trage nach wie vor jeden Tag zu Hause, was ich am Morgen des Pfingstsonntag überwarf: eine Trainingshose und ein Holzfällerhemd, na ja, nicht immer genau die , schließlich muß ab und zu etwas in die Wäsche. Das störende Flutlicht ist den langsam
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