Tonio
Im linken Teil des Geschäfts scheint in wahrer Größe eine Ecke eines Friedhofs nachgebaut zu sein, wie das vielleicht an einem Filmset geschehen würde. Was daran nicht stimmt, ist, daß aller Marmor, rosa geflammt und perlgrau-schwarz gestreift, so glänzend und unversehrt aussieht. Nirgends ein bißchen Moos oder ein Grashalm im Kies, der die Gräber bedeckt.
Aufrecht stehende Grabplatten. Liegende. Kombinationen aus beiden. Ich frage mich, ob die eingemeißelten, teilweise vergoldeten Namen ausgedachte sind. Falls ja, wie verhält es sich dann mit den in den Marmor eingelassenen Fotoporträts, oder sind das Computerkompositionen? Eine nette Spielecke für einen Romanschriftsteller.
Rechts eine Auslage mit Herzen aus rosafarbenem und Kuscheltieren (Bären, Kaninchen) aus hellgrauem Marmor.Dahinter zwei Schreibtische mit Computern. An der Wand große Tafeln mit Buchstabenmustern.
Ein etwa vierzigjähriger Mann erhebt sich hinter seinem Schreibtisch. Mirjam entschuldigt sich, daß wir zu früh gekommen sind. Es werden Hände geschüttelt, was wir im Gartenzentrum für gewöhnlich nicht tun. Eigentlich müßte er unsere Namen vom Stein her kennen.
»Macht gar nichts«, sagt der Mann.
Zu früh . Er führt uns in die Werkstatt hinter dem Showroom, wo ein zweiter Mann, in eine vage Staubwolke gehüllt, arbeitet. Vielleicht sind es Brüder, dann allerdings nicht die von 1913. Plötzlich, ehe wir darauf gefaßt sind, blicken wir auf einen aufgebockten, auf dem Rücken liegenden Grabstein – mit unseren Nachnamen.
»Ich hole mal eben die Unterlagen«, sagt der Mann, der uns begrüßt hat. Er geht in den Laden zurück.
TONIO
ROTENSTREICH-
VAN DER HEIJDEN
Ich mache Mirjam auf den Bindestrich aufmerksam. »Siehst du, daß das ganz automatisch geht? So ist es, als wäre Tonio, Mädchenname van der Heijden, mit einem Herrn Rotenstreich verheiratet. Ein kleiner Strich, und er liegt mit einer anderen Identität im Grab. Sogar mit verändertem Geschlecht.«
»Etwas für einen Thriller«, sagt Mirjam. »Identitätsschwindel, dieser Begriff von Alfred Kossmann, damit hat doch alles angefangen, oder? Ohne die Arbeit, die ich darüber geschrieben habe, hätten wir nie an den Namen Tonio gedacht.«
»Gut, der Thriller beginnt mit einer Exhumierung«, sage ich. »Anlaß: ein irrtümlich eingemeißelter Bindestrich, wodurch die begrabene Person eine falsche Identität bekommt.Den Rest darfst du dir ausdenken. Schließlich ist es dein Nachname, der …«
»Der?«
»… hier nicht hingehört.«
»Du kannst ihn entfernen lassen.«
»Nie im Leben. Jetzt, wo ich endlich mein altes Versprechen einlösen kann.«
Die drei Namen und die Jahreszahlen von Tonios Leben stehen gedruckt auf einem Blatt Papier, das mit Klebeband am Stein befestigt ist. Es kann noch alles mögliche daran verändert und verschoben werden. Der Mann kehrt mit seinen Formularen zurück. »Kontrollieren Sie bitte mit … Die Platte ist aus Belgisch Granit … hundert Zentimeter hoch, achtzig breit und acht tief. Wie wollen Sie das Foto?«
Der Stein mit Tonios Selbstporträt als Oscar Wilde liegt, sehe ich erst jetzt, lose auf der Platte. »Welche Möglichkeiten gibt es?« frage ich.
»Es geht alles«, sagt der Mann. »Von erhaben bis eingelassen. Mir erscheint am schönsten: halb im Stein, so daß doch noch ein wenig Relief entsteht.«
Ich sehe Mirjam an. Sie nickt. Der Mann hat verstanden und notiert etwas. Ich mache ihn auf den überflüssigen Bindestrich aufmerksam. Ihm mehr dazu zu erklären ist nicht nötig, er kennt die Geschichte. Wie der Strich sich dann trotzdem in den Entwurf geschlichen hat, versteht er nicht, aber in der endgültigen Inschrift wird er nicht mehr zu sehen sein.
»Andernfalls übernehmen wir die zusätzlichen Kosten«, sagt er.
Drinnen suchen wir auf der Mustertafel den definitiven Schrifttyp aus. Wir entscheiden uns für Albertus Halbfett. Wir sehen zu, wie der Mann auf dem Computer die Typographie der Inschrift ändert.
Ich weise ihn auf den etwas groß geratenen Abstand zwischen den Datumsbestandteilen hin. Er wird verkleinert. Erdruckt den endgültigen Text aus, inklusive der Stelle, an die das Foto kommt. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß der Bindestrich noch immer seinen irreführenden Platz einnimmt. Schweigend entfernt er ihn auf dem Schirm, als wäre es ein Schmutzteilchen, und ich erhalte einen neuen Ausdruck.
Ich muß an die junge Frau am Computer im Einwohnermeldeamt denken, der ich vor lauter
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