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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Nervosität Tonios geplanten Zwischennamen anzugeben vergaß. Ein Weg von rund zweiundzwanzig Jahren ist zurückgelegt, um Tonio seinen vollständigen Namen zu geben. Ich habe so lange damit gewartet, bis er in Stein gemeißelt werden mußte. Die Scham, die ich jetzt empfinde, ist ungleich größer als damals, am 16. Juni 1988, als ich mit einer unvollständigen Geburtsurkunde vor dem Einwohnermeldeamt auf der Straße stand. (»Wie sage ich es meiner Frau?«)
    »Der Stein«, erklärt der Mann, »kann schon in der kommenden Woche bearbeitet werden. Wir stellen ihn dann vierzehn Tage später auf. Dieser Belgisch Granit, ich wiederhole es noch einmal, wird mit der Zeit etwas verwittern … und das soll er auch. Das macht sich gut. Der Kies wird nach vier Jahren ausgewechselt.«
    Er bedeutet uns, einen Moment zu warten, und geht zu seinem Kollegen in die Werkstatt. Nach kurzer Rücksprache mit ihm kehrt er zu uns zurück. »Wir fangen nicht vor kommendem Montag an. Das heißt … sollten Sie es sich noch anders überlegen, was das Foto oder den Schrifttyp betrifft, dann können Sie uns bis spätestens Montag früh Bescheid geben. Wenn wir nichts von Ihnen hören, gehen wir davon aus, daß es so in Ordnung ist.«
    Mirjam will schon gehen, doch ich bleibe im Durchgang zwischen Geschäft und Werkstatt stehen, bis der Mann sein eigenes Exemplar des neuen Computerausdrucks (den ohne den Bindestrich) auf den Grabstein von Tonio Rotenstreich van der Heijden geklebt hat.
    Meine Füße fühlen sich unbehaglich an auf dem Betonfußboden. Hier hätten irgendwann Tonios Füße stehen müssen, in Schuhen, die nach zwanzig, dreißig Jahren durch das schlaffer und dicker werdende Fleisch eine Nummer größer ausfielen. Ich würde ihn hier am liebsten als Vierziger stehen sehen, dann wäre ich der mit rund achtzig Jahren Verstorbene, für den er einen Grabstein aussuchen müßte. »Belgisch Granit.« Vielleicht würde er auf die Idee kommen, eines der Fotos, die er im Laufe der Jahre von seinem Vater gemacht hat, auf Stein drucken und in das Grabmal einarbeiten zu lassen.
    Ich stellte mir vor, wie er hier ungeduldig herumginge, vielleicht mit seiner Mutter, um ein notwendiges Übel zu erledigen. Ein Grabstein für seinen Vater. Auch wenn ich das entsprechende Alter hatte, wäre es, wenn er mich noch liebte, eine Niederlage für ihn gewesen.
    Das hier, ich in seinen Schuhen, war erst die wirkliche Niederlage. Für ihn und für mich. Mein Gott, Junge, hätten wir das nur überspringen können, um mit einem Riesensatz im Jahr, sagen wir mal: 2034 zu landen. Ich in gesegnetem Alter gestorben, du auf ein solches Alter hin lebend.
4
     
    Seit ich mit diesem Requiem begonnen habe, versuche ich, Halt bei Schriftstellern zu finden, die ein Kind verloren haben.
    Shakespeares Sohn Hamnet, die männliche Hälfte seiner Zwillinge, starb mit elf Jahren. Falls sich Spuren davon in seinem Werk finden, dann nur indirekte. Der Kindermord in Macbeth vielleicht. » Give sorrow words …« Möglicherweise gestaltete Shakespeare mit dem jungen Helden aus Hamlet eine Idealisierung seines eigenen Sohnes und verkleidete sich selbst als voyeuristischen Geist.
    Ben Jonson verlor seinen ersten Sohn, als dieser siebenwar. » My sin was too much hope of thee, loved boy,/Seven years thou wert lent to me, and I thee pay,/Exacted by thy fate, on the just day .«
    Descartes kam nie über den Tod seiner kleinen Tochter hinweg, doch ob ihr Sterben seine Philosophie geprägt hat, weiß ich nicht. Klaus Mann, der älteste Sohn von Thomas Mann, beging Selbstmord. In Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit, als der Junge zwölf war, hatte der Vater sich gefragt, ob er sich in seinen in einen Matrosenanzug gesteckten Sohn verlieben könnte. Bei der Beerdigung von Klaus in Cannes mußte auf die weihevolle Anwesenheit von Thomas verzichtet werden, der sich auf Lesereise durch Skandinavien befand.
    Anna Enquist verlor ihre Tochter Margit bei einem Verkehrsunfall auf dem Dam. Wie diese gesungen und gespielt und gestrahlt hatte beim fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Literaturzeitschrift De Revisor ! Die kleine Tochter von P. F. Thomése wurde ein Schattenkind. Mauringh, der älteste Sohn von Jean-Paul Franssens, sprang vor den Zug (der Vater starb ein Jahr später). Ein Sohn von Jan Cremer wurde ermordet. Ein Sohn von Jeroen Brouwers starb an einer Krankheit. Nicht lange danach saß ich dem Vater am Tisch eines Restaurants gegenüber und konnte den Schmerz in seinen müden Augen

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