Tonio
ganz aus der Nähe sehen.
Die Liste ist lang. Schriftsteller werden nicht verschont. Vielleicht ziehen sie Tragödien eher an, weil sie sich berufshalber so intensiv damit beschäftigen. Nachdem Simenon Die verschwundene Tochter veröffentlicht hatte, verschwand seine eigene Tochter: Später stellte sich heraus, daß sie Selbstmord begangen hatte. Simenon verfaßte seine tausend Seiten umfassenden Memoiren in Form eines Briefes an sie.
Ich habe aus dem Leid meiner Kollegen keinen Trost schöpfen können. Geteiltes Leid halbiert nichts. Es vermehrt.
5
Rückweg durch den umgekippten Baukasten, der Osdorp ist. Auf der Plesmanlaan in Richtung beseelte Welt. Mirjam zeigt noch einmal auf den Turm des Slotervaart-Krankenhauses.
»Eben mal hin?« Und als ich das als Scherz aufzufassen scheine: »Ich meine es ernst. Für dein Buch.«
»Ein andermal. Die Steinmetzwerkstatt muß ja auch schon in mein Buch.«
Während wir am Krankenhaus vorbeifahren, lasse ich den Turm nicht aus den Augen. Dort irgendwo, auf einer hochgelegenen Etage, habe ich gesehen, wie er geboren wurde. Aus einer solchen Höhe auf Amsterdam zu blicken und währenddessen Vater zu werden, oh, was für ein majestätisches Gefühl das war. Die Anfechtung, mit dem noch ungewaschenen Wurm ans Fenster zu treten, um ihm die Welt (ihn der Welt) zu zeigen … Ich traute mich nicht.
Ich habe gerade seinen Grabstein gesehen. Direkt unter die abgerundete Oberseite kommt sein Porträt. So schaut er bald aus noch nicht einmal einem Meter Höhe auf ein Kiesbeet seiner Körperlänge.
»Ich weiß nicht genau, wie ich das ausdrücken soll«, sagt Mirjam, »aber ich habe immer mehr das Gefühl, daß Tonio, na ja, in mir wohnt. Permanent.«
»In uns beiden«, sage ich. »Und wir, mit Tonio in uns, wohnen seit Pfingsten permanent in einer anderen Welt. Sind die Adreßänderungskarten noch nicht verschickt? Es ist eine Welt, von deren Existenz wir nichts ahnten. Zum Beispiel diese Steinmetzwerkstatt … Da einfach hinzufahren und hineinzugehen … das hätten wir uns vor zwei Monaten nicht vorstellen können. Andere Welt, andere Türen, andere Einrichtung. Das Eigenartige ist, wir benehmen uns, als wäre es die normalste Sache der Welt … dort herumzugehen, Einkaufskorb am Arm … Gegenstände für Tonios Grab auszusuchen … wie in einem Supermarkt. Der Rückweg in dieWelt von vor Pfingsten ist für immer versperrt. So kommt man auch mal woanders hin.«
Wir sind am Slotervaart-Krankenhaus vorbei. Ich drehe mich noch einmal nach dem häßlichen Turm um. Ein oder zwei Tage nach Tonios Geburt: Ich stehe mit meiner Mutter vor der Glaswand, hinter der Mirjam im Nachthemd aufgetaucht ist, das Baby in den Armen, müdes Gesicht, aber breit lachend.
»Ja … ja, wirklich, das hast du gut gemacht.« Sie schlägt sich die Hand vor den Mund. »Oh, was sag ich da bloß?«
6
Vorige Woche erhielt Mirjam einen Anruf der Gebr. Lieftink: Der Stein sei aufgestellt. Es fehle nur etwas Kies, um das Beet aufzufüllen. Das werde so bald wie möglich in Ordnung gebracht.
Mirjam begann sofort, in der Familie herumzutelefonieren: um ein allen passendes Datum für einen gemeinsamen Grabbesuch festzulegen, denn von einer Enthüllung des Grabmals konnte keine Rede mehr sein. Natan fand es merkwürdig, daß der Stein nicht in Anwesenheit der Hinterbliebenen aufgestellt worden war. Er war der Meinung, das sei eine allgemeingültige Tradition. Aber natürlich wollte er gern mit uns zum Grab, auch um seinen eigenen, vom Aussterben bedrohten Namen in Stein gemeißelt zu sehen.
Mein Schwiegervater, meine Schwester, mein Bruder mit Frau und Kind: Alle konnten am Montag, dem zwölften Juli, dem Tag nach dem Endspiel. Meine Schwiegermutter, die am Tag der Beerdigung so heftig kundgetan hatte, sie wolle ihrem ehemaligen Ehemann nicht einmal die Hand geben, mußte eben ein andermal nach Buitenveldert. Selbst dann war es die Frage, ob sie die Anwesenheit des Namens ROTENSTREICH auf dem Stein nicht in allen Tonarten beanstanden würde. Im Umgang mit ihr war unablässige Diplomatie gefordert, die aber meist versagte.
7
Bevor das Endspiel begann, servierte Mirjam fritierte Tintenfischringe zum Drink.
»Der Mann auf dem Albert Cuyp Markt hat gesagt, es sei einer von Pauls Armen. Du weißt schon, dieser deutsche Tintenfisch, der die Resultate bei der Weltmeisterschaft vorhersagt. Indem er … wie war das gleich noch mal … indem er sich eine Muschel aus einem bestimmten Gefäß holt, oder so
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