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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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ähnlich.«
    »Und du wirfst einen Arm des Orakels einfach ins heiße Fritieröl? Das heißt die Götter versuchen.«
    »Ach wo. Tintenfisch. Paul hat vorhergesagt, daß Spanien gewinnt. Jetzt ist er unschädlich gemacht worden. Auf dem Albert Cuyp haben sie ihm die falsche Muschel rausgeschnitten und an die Möwen verfüttert. Spanien verliert.«
    »Die Ringe knirschen aber alarmierend zwischen den Zähnen.«
    »Weil ich grobes Meersalz draufgestreut habe.«
    Ich bin froh um jeden Moment, in dem ich dank irgendeiner Ablenkung nicht zu denken brauche: Mein Leben ist für immer zerstört . Gleichzeitig bin ich nach einem solchen Augenblick der Zerstreuung davon überzeugt, daß ich den Gedanken an mein verwüstetes Leben keinen Moment loslassen darf. Das müßte meine permanente Ehrenerweisung für Tonio sein. Tonios Leben für immer abgeschnitten, seine Zukunft für alle Zeiten verriegelt? Dann muß ich ununterbrochen mit der Zerstörung meines eigenen Daseins konfrontiert werden. Meine Aufmerksamkeit darf nicht erlahmen.
    In dieser ambivalenten Stimmung setzte ich mich vor den Fernseher.
8
     
    Ich konnte mir zwar in einem fort einreden, der Ausgang des Endspiels lasse mich kalt, doch spürte ich die matte Stimmung, die sich als Antwort auf die Antiklimax im Wohnzimmer eingestellt hatte. Ich hatte erwartet, daß der Museumplein sich unter lautem Protestgejohle als Auftakt zu diversen Bränden in der Stadt leeren würde, beispielsweise beim spanischen Konsulat und bei verschiedenen iberischen Reisebüros. Ich spitzte die Ohren, doch von der Straße unten erklang kein Murren von vorbeiströmenden Scharen. Die Vuvuzelas schwiegen.
    Mir drängte sich das Bild von einer Meute auf, die vielköpfig, reglos und stumm vor Fassungslosigkeit auf dem Museumplein verharrte.
    »Ich geh mal kurz raus.«
    Durch die stillen Straßen von Amsterdam-Zuid eilten ganze Herden von Oranjevieh nach Hause: stumm, niedergeschlagen, auf flüsternden oder schluffenden Schuhsohlen. In diesem anonymen Dunkel, das unsere nationale Identität ausgelöscht hatte, traute ich mich unbekümmert umherzugehen. Ich schlenderte dem Strom entgegen bis zum Ende der Straße. Im Welling, wo der Fernseher inzwischen ausgeschaltet war, herrschte eine derart gedämpfte Stimmung, daß man an den Ausklang nach der Beerdigung eines Stammgastes hätte denken können. Draußen saß eine kleine Gruppe von Rauchern.
    Der Museumplein erinnerte noch am ehesten an eine dieser Müllkippen in einem Dritteweltland, auf denen die Armen ihre Sprößlinge nach brauchbaren Abfällen wühlen lassen. Nur wurden solche Misthaufen nachts in der Regel nicht von Scheinwerfern und Riesenschirmen, die kein Bild mehr zeigten, erhellt. Der große Platz lag fast ganz verlassen da. Ein bizarrer, schimmernder Abfallteppich (Bierdosen, Wasserflaschen, sehr viel hellblaues Plastik, Kisten, orangefarbene Kleidungsstücke) bedeckte die zertrampelte Grasfläche. Wie von selbst ging der Blick nach oben, um am Himmel nach Aasgeiern zu spähen. Nur Möwen im Sturzflug.
    Zwei ungefähr zehnjährige Amateurstrandräuber waren dabei, weggeworfene Vuvuzelas einzusammeln, vielleicht in der Hoffnung, als Vorbereitung zu der Siegerehrung übermorgen noch ein Geschäft zu machen. Immerhin waren sie so schlau, sie erst, fremder Spucke trotzend, auszuprobieren: ob sich dieses schauerliche Tuten noch herauspressen ließ.
    Das Geräusch des von Fußsohlen zertretenen Blechs und splitternden Kunststoffs war noch nicht ganz verklungen: Hier und da verließen kleine Fangruppen das Gelände, mit gesenkten Köpfen. Die Niederlage wog schwer, obwohl sich in vier Jahren die Gelegenheit zur Revanche bot. Mich berührte es nicht. Was mir jedoch zusetzte, war die Kulisse des Abgangs: Die beschwor, mit diesen zehnjährigen Strandräubern mittendrin, meinen eigenen Verlust. Das Gefühl, Tonio verloren zu haben, ließ sich offenbar auf unzählige Arten und mit unzähligen Attributen verstärken.
9
     
    Heute, am zwölften Juli, machten wir uns auf den Weg, um Tonios Steinsammlung das neue Exemplar hinzuzufügen. Nicht in seiner Vitrine in unserem Wohnzimmer, dafür war es zu groß. Dieses Exemplar von Belgisch Granit wurde unter freiem Himmel ausgestellt, auf dem Friedhof Buitenveldert. Ich hatte ein kleines Stück Lapislazuli, Tonios Lieblingsstein, darin verarbeiten lassen wollen, doch das stellte die Steinmetzwerkstatt vor Probleme, also sahen wir davon ab.
    Die Stadtreinigung hatte bereits in der Nacht begonnen, die

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