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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Müllkippe auf dem Museumplein abzutragen. Als ich in der Frühe scheu meinen Morgenspaziergang machte, waren die Arbeiten noch immer im Gang – alles, um der Siegerehrung am nächsten Tag einen gesäuberten Untergrund zu bieten, damit aufs neue ein Abfallteppich darüber ausgebreitet werden konnte. Niederlage hin oder her, das Gebrüll mußte weitergehen. Die Stadt hatte sogar entschieden, daß es auch die Grachtenrundfahrt geben sollte. So hoffte man, mit Hilfe eines alchimistischen Tricks Niederlage in Sieg zu verwandeln. Man lasse eine Million orangefarben ausstaffierter Provinzler per Bahn in die Hauptstadt kommen. Man lasse sie von Brücke zu Brücke, von Grachtufer zu Grachtufer das Boot mit den Spielern umdrängen. Unter Getute und orangeroter Rauchentwicklung verwandelt sich dann mit einem Knall die Blamage von selbst in Triumph. Der neue Bürgermeister schlug Kapital daraus: Seine Amtseinführung wurde im Laufe einer Woche mit zwei Oranjefesten bekräftigt. Wenn Vandalismus sich in Rot-Weiß-Blau hüllte, war alles in Ordnung.
10
     
    »Angenommen, deine Frau oder dein Sohn wird dir genommen, schreibst du dann einfach weiter?«
    Jemand, der mir diese Frage vor Pfingsten 2010 gestellt hätte, hätte folgende Antwort erhalten: »Natürlich nicht. Sie sind beide meine Musen. Tonio eine männliche. Ich mache es in erster Linie für die beiden. Abgesehen von der Frage, ob Schreiben noch einen Sinn hätte, ich könnte es gar nicht mehr.«
    Seit Ende Mai ist es jedoch Tonio, der mich weiterschreiben läßt. Tag für Tag, von halb elf Uhr vormittags bis fünf Uhr nachmittags, ohne Mittagspause. Es ist eher ein zwanghaftes Ritual als eine freiwillige Ausübung meines Berufs. Für und über ihn zu schreiben ist die Art und Weise, ihm möglichst nahezukommen, demjenigen, der er war, und dem Abwesenden, der er jetzt ist, und mit ihm zu reden und zu schweigen. So halte ich ihn am Leben, und wenn die Arbeitdemnächst beendet ist, kann das Requiem ihn, im Zwiegespräch mit dem Leser, hoffentlich noch eine Zeitlang lebendig erhalten.
    Doch wie soll es danach weitergehen? Ich kann natürlich sagen: Es ist mein Broterwerb, und da wir beschlossen haben, am Leben zu bleiben … Es kann natürlich niemals nur um das Verdienen des Lebensunterhalts gehen, sonst hätte ich mir einen anderen Beruf ausgesucht, einen, der unmittelbarere Resultate am Ende eines Arbeitstags liefert.
    Die Frage lautet vor allem: Was soll ich danach noch schreiben? Mein gegenwärtiges Thema ist eine Art pechschwarzes Wunder, das meinen Weg gekreuzt hat. Etwas Einmaliges, da Gott sei Dank nicht noch mehr Kinder von meinem Fleisch und Blut dem Tod geopfert werden können. Es scheint alle Themen, die sich künftig anbieten, in den Schatten zu stellen.
    Vielleicht muß ich einfach abwarten, was geschieht. Die unfruchtbare Leere oder …
    Eine andere Antwort auf den schrecklichen Verlust, als über ihn zu schreiben, habe ich nicht – um nach einer gewissen Zeit zu entdecken, daß auch Schreiben keine Antwort sein kann, denn es wurde keine Frage gestellt. Das macht den Verlust noch grauenerregender: daß er keine Frage enthält, sondern nur ein Ausrufezeichen wie ein messerscharfer Eiszapfen.
    Man kann die Sache auch umdrehen und den Verlust befragen, doch auch von ihm kommt keine Antwort.
11
     
    Um zehn Uhr ging ich in mein Arbeitszimmer im dritten Stock, um mir meine Notizen vorzunehmen. Es war stickig. Ich öffnete das Fenster neben meinem Schreibtisch weit. Viel Sinn hatte das nicht, da es draußen windstill war – und jetzt stand die Luft dick und bewegungslos zwischen den Häusern, nicht einmal als zähflüssig zu bezeichnen, hätte dasdoch eine Art Strömen suggeriert. Gerade wenn man dachte: so schwarz ist ein Himmel tagsüber noch nie gewesen, zeigte sich, daß er noch um eine Nuance dunkler werden konnte. Alles, damit der Blitz voll zur Geltung kam. Beim umflorten Grollen des Donners mußte ich an die mit schwarzem Tuch bedeckten Trommeln in einem neapolitanischen Trauerzug denken, den ich 1980 gesehen hatte, als ich Mirjam allein gelassen hatte, um in Positano »mein Glück aus der Entfernung zu betrachten«. Kurz und gut, wir hatten einen perfekten Tag ausgesucht, um Tonios Grabstein einzuweihen.
    In dem Moment, als ich dachte, es würde keine Entladung mehr geben, hörte ich, noch bevor ich den Regen fallen sah, ein gemeines Trommeln auf dem Flachdach über mir. Ich schloß das Fenster, denn die Tropfen spritzten schon vom Rahmen auf meine

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