Tonio
war kurz vorher gegangen. Im Haus roch es schwach nach Zigarettenrauch.
»Und … gelungen?« fragte ich.
»Das muß sich noch zeigen«, sagte er. »Die digitalen Aufnahmen kann ich ziemlich gut auf dem Computer beurteilen. Aber ich habe auch analoge gemacht, und von denen muß ich erst mal die Abzüge sehen.«
»Komm noch kurz in den Garten, bevor du gehst«, sagte ich.
An der kleinen Laube mit der Zweisitzerbank lehnte seitlich einer der Styroporaufhellschirme. Ich setzte mich mit den Abendzeitungen auf die Veranda. Kurz darauf legte Tonio zwei quadratische Fotos vor mich auf den Tisch.
»Das sind nur Polaroids, mußt du bedenken«, sagte er. »Ich mache immer ein paar, um das Licht zu testen.«
Es waren Schwarzweißaufnahmen. Sie zeigten ein Mädchen oder eine junge Frau in Tonios Alter mit halblangem, offenem Haar und einem hübschen Gesicht, das viel zu lieb wirkte für die Arbeit als unnahbares Model. Sie hatte sich in einer etwas zu gewollt anmutigen Pose fotografieren lassen, eingerahmt von der Minilaube, aus der die Bank während der Session offenbar entfernt worden war.
»Ein hübsches Mädchen«, sagte ich mit noch nicht erlahmtem Kennerblick. »Sehr hübsch. Aber ein professionelles Model … ich weiß nicht.«
Ich gab Tonio die Polaroids zurück. Ich sah seinem Gesicht an, daß ich wieder mal nichts verstanden hatte.
»Professionell? Adri, sie studiert . Sie will sich als Model und mit Schauspielerei nur was dazuverdienen. So wie ich bei Dixons.«
»Sie ist sehr attraktiv, das muß man ihr lassen.«
Plötzlich änderte sich seine Haltung. »Sie hat gefragt, ob ich Samstagabend mitkomm ins Paradiso«, sagte er verlegen-stolz. »Irgend so ein irrer italienischer Abend, mit italienischen Tophits aus den Achtzigern.«
»Oh, dann gibt‘s bestimmt viel Eros Ramazzotti.«
Er zog ein komisches Gesicht, das sagte: nie von gehört. Mirjam kam auf die Veranda und fragte, ob wir etwas trinken wollten. Tonio lehnte ab, nahm aber trotzdem, wenn auch unruhig, auf einer Stuhlkante Platz. Mirjam erinnerte mich an zwei Beerdigungen am nächsten Tag, die ungefähr zur selben Zeit stattfinden sollten. Zwei gute Bekannte, die uns beide wichtig gewesen waren.
»Wir müssen uns entscheiden«, sagte sie. »Und nicht: du zur einen, ich zur anderen. Das machen wir diesmal nicht.«
»In letzter Zeit sterben zu viele«, sagte ich. »Zu viele Einäscherungen und Beerdigungen. Die Frage ist: Muß man überall hin? Die Leute geben einem so schnell das Gefühl,daß man nicht drum herumkommt. Das ist ungerecht, weil ich selbst …« Ich wandte mich zu Tonio. »Ich weiß nicht, ob du‘s schon weißt … zumindest hörst du‘s jetzt … ich will auf jeden Fall, wenn es soweit ist, im allerkleinsten Kreis beerdigt werden. Nicht eingeäschert, nein, in die Erde. Eine Grube, und an deren Rand drei Menschen. Drei, nicht mehr.«
»Oh«, sagte Tonio, »wer ist denn der dritte?«
Einen Moment war es still, dann brachen wir gleichzeitig in Gelächter aus. Ja, er hatte recht. Der dritte, der lag im Sarg.
Tonio hatte ein wunderbar verhaltenes Lachen mit fröhlichen Ausrutschern, bei dem seine geöffneten Lippen nur noch voller schienen und die Haut auf seiner Nase sich in Richtung Stirn hochzuschieben schien. (Auch dieses Lachen befand sich jetzt in kritischem Zustand. O Gott, rette sein Lachen.)
Er stand auf und fragte, noch immer kichernd, seine Mutter: »Holt ihr sonntags noch immer was vom Suri?«
»Eine Tradition aus der Zeit vor deiner Geburt«, sagte Mirjam.
»Auch zu Pfingsten?«
»Pfingsten ist uns egal.«
»Dann komm ich Sonntag. Ein Chow-Minh wäre super.«
»Gut, aber dann nicht wieder anrufen und sagen, du kommst nicht, weil du so fertig bist. Wie letzten Sonntag, als wir in die Stadt wollten.«
»Ach ja, die Uhr … wir müssen uns noch mal verabreden.«
Auf seine schnelle, federnde Art, die Schultern etwas vorgebeugt, ging er zur Tür und verabschiedete sich mit seinem variablen Gruß, der diesmal ungefähr wie »oi« klang.
»Viel Spaß am Samstag«, rief ich ihm nach. Ich weiß nicht, ob er es noch hörte, denn er war schon auf dem Weg durch die Küche zur Haustür. Außergewöhnlich: Tonio, der zum dritten Mal in einer Woche vorbeikommen wollte. Er hatte uns am Tag zuvor seine Zukunftspläne unterbreitet, aber es war, als wolle er noch etwas erzählen. Ich hatte nicht vergessen, wie stolz ich früher auf eine neue Freundin sein konnte. Während die Eroberung noch im Gang war, wollte ich schon mit dem
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