Tonio
mich gelehnt. Tonio schob eine Hand hinter meinen Rücken und kroch immer näher. Es war wohl eine Erleichterung für ihn, daß es das noch gab in der coolen Welt, die er gerade für sich selbst schuf.
Wir hatten Tonio wochenlang nicht gesehen. »Du siehst gut aus«, sagte ich, »aber das hörst du natürlich nicht gern.«
Er tat meine Bemerkung mit einem Grinsen ab. Seit sein Pubertätsfett geschmolzen war, hatte er mehr und mehr den kompakten Körper seiner ersten Gymnasiumsjahre wiedererlangt. Im kommenden Monat würde er zweiundzwanzig. Vielleicht weil er sein langes Haar ausnahmsweise nicht in einem Pferdeschwanz trug, fiel mir die Ähnlichkeit mit einem im Sommer 1973 aufgenommenen Foto von mir auf, wenige Monate vor meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Ich stehe auf einem Felsen mitten im schnell strömenden Wasser, und ob zu Recht oder Unrecht, ich fühlte mich in dem Alter auch wirklich mit allen Wassern gewaschen. Als ich jetzt Tonio eingehend ansah, wurde mir bewußt, daß ich ihn seit seinem Abitur vor vier Jahren nicht seiner Entwicklung gemäß behandelt hatte. Ich hatte die Bekanntschaft mit dem Erwachsenen immer wieder aufgeschoben und ihn in den vergangenen Jahren ständig mit Ratschlägen überschüttet, die für einen unsicheren Heranwachsenden bestimmt waren. Er, seinerseits, war zu höflich gewesen, mich zu korrigieren.
Es war doch so einfach. Bretagne 1973 und die Jahre danach hatten sich meinem Gedächtnis nicht entzogen. Wenn ich den demnächst zweiundzwanzig-, dreiundzwanzig-, vierundzwanzigjährigen Tonio nicht weiterhin wie ein Kind behandeln wollte, brauchte ich nur an mich selbst in diesem Alter zu denken.
Die Routine, mit der er ein Glas Bier nach dem anderen hinunterkippte, war jedenfalls ganz sein Vater Anno 1973. Nachdem wir eine halbe Stunde lang Neuigkeiten ausgetauscht hatten, blickte er sich unruhig um. »Ich sehe wenig Studienkollegen. Und noch weniger Eltern.«
Tonio machte einen Rundgang durch den vollen Kellerraum und warf einen Blick in das angrenzende Atrium, in dem gedeckte Tische standen. Wieder zurück, zuckte er mit den Achseln.
»Vielleicht hab ich was nicht mitgekriegt«, sagte er, »vielleicht ist der Termin verschoben worden oder so.«
»Wir nehmen noch eins«, sagte ich, »und warten in aller Ruhe.«
So verstrich eine weitere halbe Stunde. Es tauchte kein einziger aus seiner Studiengruppe auf, sei es mit oder ohne Eltern. Er tat mir leid, als er noch einmal, unsicherer als vorhin, das Lokal durchquerte und schließlich mit leicht gequältem Grinsen zu uns zurückkehrte. Armer Junge. Jetzt hatte er seinen Vater und seine Mutter antanzen lassen, und es stellt sich heraus, er kann ihnen nichts bieten. Er stöhnte.
»Ich hab bestimmt irgendeine Mail nicht gekriegt.«
14
»Essen können wir überall«, sagte Mirjam.
Tonio hatte eine Idee. »In der Staalstraat«, sagte er, »da gibt‘s ein Lokal, in das ich manchmal mit Kumpels vom Studium gehe. Das Steak ist da ganz ordentlich, und es gibt diese grob geschnittenen Pommes.«
Wir in die Staalstraat. Amsterdam lag fröstelnd da. Irgendwo in dieser Stadt versammelten sich jetzt ungefähr fünfzehn Elternpaare und ihre Medien & Kultur studierenden Kinder in einem Restaurant und warteten auf Tonio und seine Eltern. Währenddessen saßen wir zu dritt im Restaurant ‘t Staaltje und erlebten den schönsten Abend seit Jahren. Ausgelassen, weil wir wieder einmal wirklich zusammen waren. Alle drei gut drauf. Vor allem Tonio sehr schlagfertig. Mir fiel auf, wieviel eloquenter er in der letzten Zeit geworden war. (Ich mußte an die gewundenen Sätze denken, die er schon mit sieben, acht Jahren mit seiner melodisch hohen Stimme von sich gab. Meine Enttäuschung, als er später, im Stimmbruch, viel abgehackter zu sprechen begann. Als störrischer Pubertierender schien er eine Zeitlang jedes Wort nur höchst widerwillig auszusprechen.) Mirjam und ich versuchten, seine Witzeleien noch zu überbieten. Der Ober, der unser Lachen mit neuen Getränken unterbrach, sagte: »Wäre doch jede Gesellschaft so.«
Erinnerungen wurden ausgekramt. Einige ließen uns still werden, aber nie für lange. Wir räumten das eine oder andere alte Mißverständnis aus. Und das Steak war wirklich nicht schlecht. Die Pommes hatten die versprochene flämische Rustikalität.
Nach einem etwas längeren Schweigen, als Wehmut sich breitmachte, sagte Mirjam zu Tonio, sie vermisse am meisten die sonntäglichen Streifzüge durch die Stadt, seit er
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