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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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wenn es unser Eigentum gewordenwar, mit seiner eigenen Familie dorthin zurückkehren, während wir selbst eine kleinere Wohnung nehmen würden. Die nächsten fünfzehn Jahre würden wir dort zu dritt sicher sein. Ich wandte mich an den Barmann und fragte, ob in der Gegend viel eingebrochen werde.
    »Nur gezielte Einbrüche«, sagte er. »Bei Leuten mit Gemälden oder einer Briefmarkensammlung.«
    Briefmarken sammelte ich nicht, und bisher hingen bei uns lediglich einige eingerahmte, von Tonio gemalte Bilder an der Wand, zum Beispiel sein meisterhaftes Porträt unserer Katze Cypri.
13
     
    Das Taxi verließ die A 10 und nahm Kurs auf Buitenveldert.
    »Kritischer Zustand«, sagte ich. »Den ganzen Tag setz ich mich schon mit diesem Begriff auseinander. Mit dem, was er bezeichnet … vor allem mit seiner Dehnbarkeit. Dieses Kritische, das hatte irgendwie etwas Beruhigendes. Als ob es mit etwas zusätzlicher Anstrengung der Ärzte doch noch gut ausgehen könnte … Jetzt weiß ich, daß das Kritische eines kritischen Zustandes auch eintreten kann.«
    »Dann hat dieser Begriff für mich eine ganz andere Bedeutung«, sagte Mirjam. »Als heute morgen die Polizei vor der Tür stand, da wußte ich, daß irgend etwas ganz Schlimmes passiert war. Noch bevor sie den Mund aufgemacht hatten. Und als ich hörte, kritischer Zustand, da wußte ich ganz genau, daß er sterben würde. Oder schon tot war .«
    »Er lebte noch.«
    »Den ganzen Tag über spürte ich, daß es schlecht enden würde. Natürlich hatte ich keine Gewißheit. Ohne Milz hätte Tonio weiterleben können. Genauso wie man mit nur einer Niere weiterleben kann. Aber als ich das mit seinem Gehirn hörte … daß nach der rechten auch die linke Hälfteanschwoll … Ich hab nur noch gebetet, daß wir keine Gewächshauspflanze zurückbekommen.«
    »Ein Tonio, der aus dem Koma erwacht«, sagte ich, »das war später, am Nachmittag, meine Schreckensvorstellung. Ernsthaft beschädigtes Gehirn, und sich dann noch der eigenen Verfassung bewußt sein. O mein Gott, was habe ich angerichtet? Was habe ich mit meiner Unvorsichtigkeit alles kaputtgemacht? Ich denke, ich wäre an seiner Reue, seiner Scham gestorben … plus meiner eigenen.«
    Danach war es wieder eine Weile still, abgesehen von der arabischen Musik und Mirjams Schluchzen. Wir fuhren durchs Stadion-Viertel und näherten uns dem Haarlemmermeer-Kreisel, in dessen Nähe mein Schwiegervater Natan wohnte. Hinde drehte sich zu ihrer Schwester um und fragte: »Papa und Mama informieren … wie wollt ihr das machen?«
    »Nicht am Telefon«, sagte Mirjam.
    Sie vereinbarten, zuerst bei uns zu Hause zu beratschlagen und dann mit dem Fahrrad zur jeweiligen Adresse ihrer Eltern zu fahren – in welcher Reihenfolge, das würden sie sehen. Es überraschte mich ziemlich, daß ich so selbstverständlich von der schmerzlichen Mission ausgeschlossen wurde, aber ich protestierte nicht.
14
     
    Wir stiegen aus dem Taxi. Ich schaute die gelbe Backsteinfassade hinauf. Durch die halb zur Seite geschobenen Vorhänge in Tonios ehemaligem Zimmer schien elektrisches Licht – am Morgen wahrscheinlich von Mirjam angelassen, als sie sich da zitternd vor Angst angezogen hatte.
    Ich erinnerte mich, wie wir im August 1998 aus dem Urlaub zurückkamen und auf eine sechsköpfige Familie vor unserem Haus trafen. Die Leute schauten, den Kopf im Nacken, auf Anweisung eines alten Mannes hoch, der sich als Führer der Gruppe gebärdete. Sie sprachen englisch (amerikanisch).Als er uns die Koffer zur Haustür schleppen sah, ging der alte Mann auf uns zu. Er stellte sich auf niederländisch vor und erzählte, er habe hier bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr, das heißt, bis kurz vor Ausbruch des Krieges, gewohnt. Über die Schweiz habe er nach Amerika fliehen können – nach New York, wo er noch immer lebe. Er sei hier in Begleitung seiner Frau, seiner Tochter, seines Schwiegersohns und zweier Enkel. Aus Anlaß seiner goldenen Hochzeit habe er der ganzen Familie eine Reise in seine Geburtsstadt geschenkt, eventuell als besonderes Schmankerl die Besichtigung des Hauses, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht habe.
    Wir ließen die Familie gern herein. Tonio, der hier eine wichtige Aufgabe für sich sah, trabte voran zu dem, was seiner Meinung nach die Sehenswürdigkeiten des Hauses waren: der Keller, voll mit Lego Technic, und sein eigenes Zimmer mit dem K‘NEX -Riesenrad. Der Vater des alten Mannes hatte in diesem Haus einen Weinhandel betrieben: Im

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