Tonio
die Hände fast bis auf meinen und Tonios Rücken ausgestreckt.
»Wir drei«, sagte sie, in Tränen, Mal um Mal. »Wir haben‘s geschafft. Wie gut, wie gut, oh, wie gut. Diesen … diesen Moment, den müssen wir festhalten. Für immer.«
Und ich, Blödmann, ließ es geschehen. Ich saß da mit einer Kehle wie ein ausgewrungenes Wäschestück und überließ Mirjam das Reden. Tonio schwankte mit starrer Miene zwischen Distanz und Hingabe. Er kämpfte gegen seine Tränen, wie man so schön sagt. So wie Tonio von mir zu Mirjam blickte und unbehaglich unsere Gefühle zu ergründen versuchte, erinnerte er mich an den Fünfjährigen, der bei der Einäscherung seines Opas vor mir gestanden hatte, sprachlos die Tränen und unkontrollierten Nervenzuckungen auf meinem Gesicht anschauend, nicht wissend, ob er mitweinen oder seinen Vater trösten solle.
Na hör mal, er wurde achtzehn heute. Die Gäste mochtenehrfürchtig schweigend alle woandershin schauen – ihn sahen sie jetzt nicht flennen, no fucking way .
Gerade als Tonio auf dem Balkon dabei war, seine Schultasche, geschmückt mit einem Drachenschwanz aus benutzten Heften, am Flaggenmast aufzuhängen, radelte seine alte Liebe Merel vorbei. Ich konnte sie von meinem Platz auf der Couch nicht sehen, erkannte jedoch ihre Stimme.
»Herzlichen Glückwunsch«, rief sie hinauf.
»Ja, danke … danke«, rief er lachend zurück.
Das war alles. Er kam wieder ins Wohnzimmer.
»Wer war das?« fragte Mirjam.
»Ach … Merel.«
»Hättest du sie nicht hereinbitten sollen?«
Tonio zuckte mit den Achseln. Etwas in den Zuckungen von Augen- und Mundwinkeln verriet eine gewisse Unsicherheit: Vielleicht hätte er das wirklich tun sollen. »Merel hat selber Abi gemacht«, sagte er dann nur, ausweichend.
Gott, Tonio, deine große Liebe in all den Jahren. Grausame Kinder – grausam zueinander, grausam zu sich selbst.
18
Wenn Tonio in meinem Arbeitszimmer spielte, blieb er manchmal hinter meinem Rücken stehen, um über meine Schulter mitzulesen, was ich gerade schrieb oder kurz zuvor geschrieben hatte. Manchmal fragte er mich, was das bedeute, aber wenn ich es ihm erklärte, schweiften seine Gedanken meist schon wieder zu seinen Warhammer-Armeen oder dem K‘NEX -Turm ab, an dem er gerade baute. Einmal erkannte er seinen Namen und den seiner Eltern in einem soeben entstandenen Absatz.
»Handelt das von uns?«
Ich erklärte ihm, daß dies eine Tagebuchnotiz sei. (Ich führte in dieser Zeit ein getipptes Tagebuch, auf losenBlättern.) Das fand er komisch. Etwas später am selben Tag nahm ich ihn kurz beiseite. »Wenn du achtzehn wirst, Tonio, bekommst du von mir eine Mappe mit Aufzeichnungen über dein Leben. Über deine Geburt und all die Dinge, die du nicht mehr weißt … oder vielleicht wieder weißt, wenn du sie liest … Ich mache ein schönes Buch daraus.«
Tonio sah mich kurz an, nicht ohne Wohlwollen, und sagte dann: »Oh, schön.« Und weg war er.
An seinem achtzehnten Geburtstag, der also mit der Bekanntgabe seines bestandenen Abiturs zusammenfiel, hatte ich die versprochene Mappe beziehungsweise das Buch noch nicht fertig. Er hat auch nicht danach gefragt. Natürlich nicht: Sein Leben brauchte nicht festgehalten zu werden, es mußte gelebt werden. Und ganz bestimmt von diesem Moment an.
» Oh, schön .« Das Ausarbeiten der ursprünglich im Telegrammstil niedergeschriebenen Notizen gibt mir das Gefühl, ein altes Versprechen Tonio gegenüber einzulösen, relativ kurz nachdem er achtzehn wurde. Das Scheußliche ist nur, daß ich mich nicht auf die Schilderung seiner Geburt und der nachfolgenden Kinder- und Jugendjahre beschränken kann. Ich komme um den Bericht über seinen letzten Tag nicht herum. Was ich ihm in Aussicht gestellt hatte, war ein kleines Buch mit einem offenen Ende. Es droht jetzt mehr als vollständig zu werden.
19
Wegen des sommerlichen Wetters fand die Überreichung der Abiturzeugnisse im Freien statt. Üppiges Sonnenlicht brachte die gläsernen Sandkörner in den Steinplatten des Schulhofs zum Glänzen.
Das Ignatius. Im Gegensatz zu Mirjam war ich nicht oft hiergewesen. Die Elternabende, die Gespräche mit demKlassenlehrer – mit welchem Recht eigentlich überließ ich sie ihr? Ja, jener Abend mit dem Benzinverbrennungsmotor, den hatte ich miterlebt. Vielleicht bewirkte die Anwesenheit seines Vaters, daß Tonio, anfangs vor Nervosität wie gelähmt, so schnell in seine Rolle fand. In seinem Eifer, alles zu erklären, bekam er etwas fast
Weitere Kostenlose Bücher