Tonio
Souterrain hatte sich das Lager befunden. Während Tonio sein Lachen durchs Haus plätschern ließ, folgte ihm die ganze Familie weinend. Vor allem hatte es die Frau und die Tochter gepackt. Vater hatte so oft über das Haus seiner Kindheit gesprochen, und jetzt … jetzt gingen sie einfach so darin herum! Vieles im Haus hatte sich im Laufe von beinahe sechzig Jahren durch Umbaumaßnahmen verändert, aber manchmal erkannte der Mann voller Rührung noch Dinge aus den dreißiger Jahren. Die Bleiglasscheiben der Balkontüren, die Deckenornamente, die Dienstbotenkammer im dritten Stock.
Als wir im Wohnzimmer Kaffee tranken, deutete er auf eine Schranktür. »Darin ist ein Geheimversteck. Mein Vater hatte da einen kleinen Tresor.«
Mirjam öffnete den Schrank. Auf dem Boden lag ein Stück Linoleum über einer Luke, die wir bisher nie gesehen hatten. Der Raum darunter war leer (setzte aber Mirjams Phantasie in Gang, so daß einige Jahre später ein thrillerartiger Roman darüber erschien). Der Mann und seine ganze Familie warengerührt, daß er noch etwas Greifbares von seinem Vater hatte wiederfinden können.
Ich ließ meinen Blick noch einmal über die gelbe Fassade wandern, hinter der Tonio aufgewachsen war – und hinter die er vom heutigen Tag an nie mehr zurückkehren würde, auch nicht im hohen Alter. Die Erinnerung an den alten Mann löste bei mir jetzt eine Woge unendlichen Mitleids mit Natan, Tonios siebenundneunzigjährigem Großvater, aus, der gleich von seinen Töchtern erfahren würde, daß sein Enkel nicht mehr lebte.
15
Mirjam und Hinde radelten jetzt wahrscheinlich von ihrem Vater in der Lomanstraat zum Sint-Vitus-Heim im Viertel Jordaan, in dem ihre Mutter untergebracht war. Wie erzählt man seinen Eltern, daß ihr einziges Enkelkind auf der Straße überfahren worden ist – ich konnte es mir vorläufig nicht vorstellen. Ich wollte nur, die beiden kämen bald nach Hause. Ich hatte Angst.
Im AMC hatte ich den Tag über viel häufiger als gewöhnlich die Toilette aufgesucht und dabei immer weniger und immer farbloseren Urin ausgeschieden, wie es passiert, nachdem man in regennasser Kleidung in irgendeinem zugigen Bahnhofswarteraum hat sitzen müssen. Auch jetzt, während die Wärme des sommerlichen Pfingsttags noch im Haus zu spüren war, machte sich der Drang, wie bei einer erkälteten Blase, erneut bemerkbar. Ich saß bestimmt eine Viertelstunde auf dem äußersten Couchrand, die Fäuste neben mir in die Kissen gepflanzt, bereit, mich hochzustemmen und zum WC zu gehen. Als ich mich endlich aufraffte, aufzustehen und aus dem Zimmer zu gehen, blieb ich noch eine Weile unentschlossen auf dem Flur. Meine Hände lagen auf der Balustrade, die das Geländer der Treppe nach oben mit dem der nach unten führenden Treppe verband. So kehrte ich,über die Stufen in die Diele hinunterschauend, sicher der Wand mit den Fotos den Rücken zu.
Links von mir, neben der kleinen Teeküche, liegt die Toilette. Gegenüber deren Tür hat Mirjam, schon vor Jahren, an der beschädigten Stelle, an der sich früher der Sicherungskasten befand, eine Ecke mit Fotos von Tonio eingerichtet. Sie stammen aus verschiedenen Altersphasen.
Tonio als Kleinkind, mit dem obligatorischen Lachen, das den darunterliegenden bedripsten Ernst nicht ganz überdecken kann.
Ein schneidiger Tonio, mit cooler Mütze auf dem Kopf, breit grinsend zwischen den kichernden Schwestern Merel und Iris. (Wie an seinen entblößten Zähnen zu erkennen ist, noch vor dem Anbringen einer Zahnspange.)
Verkleidet als Dorus, samt Schnurrbart, Melone und Kittel, als er bei einem Fest in der Cornelis Vrij Schule das Lied »Er wonen twee motten« (Da wohnen zwei Motten) singen (oder playback singen) mußte.
Als Achtjähriger, gemeinsam mit seinem Vater Bücher in der Buchhandlung Scheltema signierend. (Auf dem Foto, von Klaas Koppe, überreicht er einem Käufer gerade ein signiertes Exemplar.)
Mit Freund Jim in Antwerpen bei der Verleihung der Gouden Uil 2004 (nicht an mich), beide mit einem großen Glas Jupiler-Bier in der Hand, sich vor Lachen biegend. Tonio reißt dabei den Mund weit auf, so daß die in seinem fünfzehnten Lebensjahr noch immer vorhandene Zahnspange funkelnd sichtbar ist.
Tonios Selbstporträt als Oscar Wilde, Resultat einer Gruppenarbeit an der Amsterdamer Fotoakademie, Herbst 2006.
Wer hier das WC verläßt, blickt unweigerlich auf diese Porträtgalerie. Ich wußte nicht mehr, wann genau es begonnen hatte, irgendwann im Jahr zuvor,
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