Tonio
jedenfalls gelang es mir von einem bestimmten, aber nicht feststellbaren Augenblick an nicht mehr, meinen Blick mit der gewohnten Rührungüber diese Fotos wandern zu lassen. Ich fragte mich, ob das durch den Panda kam, der dort zusammen mit zwei kleinen Porträts von Tonio ganz oben hing, seit seinem Abitur 2006.
16
Als ich vom Flur auf die oberste Treppenstufe treten will, höre ich die Stimmen von Tonio und Merel im Badezimmer. Die Tür steht einen Spaltbreit offen. Ich bleibe unwillkürlich stehen und lausche. In der Stille ertönt das murmelnde Pinkelgeräusch eines Kindes.
»Wenn ich fertiggepinkelt habe«, sagt Tonio, »dann bist du dran. Ich spül vorher nicht, das ist nicht so gut für die Umwelt. Wir müssen an die Umwelt denken. Jetzt kannst du, Merel.«
Laut knallt die Brille herunter. Wieder das Geräusch eines Kinderpinkelns, ergänzt um das spezielle Plätschern, das Mädchen vorbehalten ist.
»Zweimal pinkeln ohne spülen«, sagt Tonio, »das ist viel besser für die Umwelt. Wenn du fertig bist, darfst du aber ruhig spülen, hörst du? Das ist dann immer noch gut für die Umwelt. Stimmt doch, Merel, oder?«
Leicht beschämt setze ich meinen Weg nach unten fort. Ich habe den Eindruck, daß Tonios und Merels gemeinsamer Aufenthalt im Badezimmer nicht nur von der Sorge um die Umwelt bestimmt ist, wenngleich die Umwelt natürlich davon profitiert.
Es muß ungefähr zur selben Zeit gewesen sein, im frühen Frühjahr, als Tonio seiner Mutter eine merkwürdige Rechenaufgabe stellt. Merel steht kichernd neben ihm.
»Mama, wenn ich Merel jetzt schwanger mache, wie lange dauert es dann noch genau, bis das Baby da ist?«
Mirjam, die denkt, daß sie bei der sexuellen Aufklärung versagt hat, fängt an zu erklären: »Also, du mußt rechnen, daß ungefähr …«
»Nein, wir wollen es genau wissen«, unterbricht Tonio sie heftig, »wir wollen nämlich, daß das Baby genau zu Silvester geboren wird. Nicht, Merel?«
Immer wenn Merel verlegen ist und nicht voll loszuplatzen wagt, bekommen ihre Wangen etwas Hamsterartiges. Ihre ohnehin vollen Lippen stülpen sich weiter nach außen, während sie ihre beiden kleinen Finger ineinanderhakt, wie um deren entgegengesetzte Kräfte zu testen. Sie nickt ungestüm. »Ja«, sagt sie mit fast unverständlich leiser, jetzt jungenhaft tiefer Stimme, »das wollen wir gern wissen.«
17
Am 15. Juni 2006 feierten wir Tonios achtzehnten Geburtstag. Gegen Ende des sonnigen Nachmittags erschienen einzeln oder in kleinen Gruppen die Gäste. In diesen Tagen, möglicherweise am folgenden Tag, sollten die Resultate der Abiturprüfungen am Ignatius bekanntgegeben werden, doch die Geburtstagsfete drängte die Nervosität deswegen in den Hintergrund. Tonio volljährig … unbegreiflich. Jedesmal, wenn er das Zimmer verlassen hatte und Mirjam ihn zurückrief, damit er das nächste Geschenk auspackte, erwartete ich, das Kind, das ich um so vieles besser kannte als den heutigen Erwachsenen, komme herein. Das letzte Pubertätsfett war noch nicht ganz verschwunden, so daß seine Haltung nach wie vor linkisch war, aber er riß nicht mehr wie in den vorangegangenen Jahren, einem aufgestachelten Hündchen gleich, mit Fingernägeln und Zähnen das Papier von den Geschenken. Bei allem, was er jetzt, vorsichtig ausgepackt, in den Händen hielt, trat ein erfreut-verlegenes Grinsen auf sein Gesicht.
Das Telefon klingelte zum soundsovielten Mal. Mirjam nahm ab.
»Tonio, für dich.«
Er legte das letzte Geschenk (einen noch empfindlicherenLichtmesser) zu den übrigen auf den Kaminsims und übernahm den Telefonhörer von seiner Mutter. Die Gesellschaft plauderte weiter, doch ich richtete ein Ohr auf den telefonierenden Tonio.
»Oh, vielen Dank«, rief er aus. »Woher wußtest du, daß ich heute Geburtstag habe?« Und kurz darauf: »Ach so, das. Ja, natürlich. Weißt du, da hab ich im Moment gar nicht dran gedacht.«
Etwas in seiner Stimme, ein schriller Gickser vielleicht, bewirkte, daß die Anwesenden verstummten. »Ja, vielen Dank.« Er legte auf und drehte sich um. »Mein Klassenlehrer«, sagte er achselzuckend. »Ich dachte, er gratuliert mir zum Geburtstag. Aber … äh … es sieht so aus, daß ich‘s geschafft hab.«
In der nun folgenden halben Stunde hatten wir drei unsere Gäste ganz vergessen – nein, sie existierten nicht mehr für uns. Tonio und ich saßen, den Arm um die Schultern des anderen gelegt, auf der Couch. Mirjam kniete vor uns, den Busen auf unseren Knien und
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