Tonio
Pedantisches, allerdings auf eine rührende Weise.
Ich dachte an William Faulkner, der in seinem Arbeitszimmer auf die Schreibmaschine einhämmert, Rhapsody in blue aus dem Grammophon, Whisky in Griffnähe, und auf der Türschwelle seine Tochter, die den Vater anfleht, zum Elternabend in ihrer Schule mitzugehen. Nein, mein Liebes, das geht wirklich nicht. Papa muß versuchen, an Shakespeare heranzukommen, und so weit ist er noch lange nicht. Ein andermal, Schatz.
Ich war so verdammt froh, dort, auf dem Schulhof, daß Tonio das Gymnasium geschafft hatte. Nicht der Schatten meines Körpers lag vor meinen Füßen, nein, der meines puren Stolzes, scharf ausgeschnitten auf den grauen Steinplatten. Ich befand mich zu sehr in einem Rausch, um mich zu fragen, ob mir dieser Stolz überhaupt zustand.
Jeder Prüfling, der bestanden hatte, wurde nach vorn gerufen und durfte sich von seinem Mentor eine persönliche Rede anhören. Es ging in alphabetischer Reihenfolge. Obwohl Tonio nicht am Ende des Alphabets dran war, begann er ungeduldig zu werden. Hatte er zu Beginn noch laut über die witzigen Worte der verschiedenen Klassenlehrer gelacht, wurde jetzt sogar sein Lächeln immer dünner. Endlich durfte er sein Zeugnis in Empfang nehmen. Mirjam und ich drängten uns vor.
Tonios Mentor, zugleich sein Biologielehrer, hatte in den einzelnen Ansprachen den jeweiligen Schützling mit einem zu diesem passenden Tier verglichen. Er überreichte Tonio eine eingerahmte Fotocollage, auf der zu sehen war: ein Porträt von Tonio aus dem Jahr 2000, als er in die siebte Klasse eintrat (mit kurzem Haar und kleiner Brille), ein Porträt von ihm von 2006, kurz vor seinem Abitur gemacht (mit langem Haar und ohne Brille), und dazwischen das Foto eines Riesenpandas.
»… Tonio, meine Damen und Herren, hat die Gutmütigkeit und die Streichelbarkeit eines Pandas. Die Kehrseite ist, daß er auch die Wehrlosigkeit und Verletzlichkeit eines Pandas besitzt, wodurch er gelegentlich dazu neigt, sich auf der Nase herumtanzen zu lassen …«
Zum Glück konnte ich das nie mehr vergessen, denn es war mit Hilfe der Sonne in mein Gehirn eingebrannt: wie Tonio, ein bißchen dizzy, mit Zeugnis und Panda unter dem Arm sich durch das dichtgedrängte Publikum zu uns schlängelte. Wir umarmten ihn noch einmal, diesmal etwas offizieller. Er zog eine Miene, als wolle er sagen: War‘s das jetzt ? Es lag bereits hinter ihm. Ich erinnerte mich an meine eigene Mattigkeit am ersten Juni 1969, gleich nach der Überreichung der Abiturzeugnisse.
Mirjam fragte ihn, was er von der Rede halte. Tonio drehte die Hand hin und her. So lala. An der Grenze. Er wolle nicht als gutmütig gelten, und wehrlos, nein, das sei er schon gar nicht.
»Streichelbar, na gut«, meinte er grinsend, »das kann man auch jederzeit abwehren.«
Seine Blicke wanderten unruhig zu ein paar ehemaligen Klassenkameraden, die ihm winkten. Er gab uns das Zeugnis und die Pandacollage zum Aufbewahren. »Ich wollte mit den Jungs da noch auf ein paar Feten vorbeischauen.«
»Eingeladen?« fragte ich.
»Nein, nicht nötig«, sagte er.
»Weißt du noch, wie du vor drei Jahren, als du selbst eine Fete gegeben hast, mit deinen Freunden ein paar party crashers vor die Tür gesetzt hast? Als Mirjam und ich nach Hause kamen, stand ein Streifenwagen vor der Tür.«
»Der war schon nicht mehr nötig«, sagte er. »Also wie – wehrlos?« [1]
20
Um Tonio nicht vor den Kopf zu stoßen, fügte Mirjam »die drei Pandas« nicht gleich in die Porträtgalerie auf dem Flur ein, doch von dem Tag an, Monate später, an dem die Collage dort hing, schien es (jedenfalls für mich), als verbreite sich die vom Biologielehrer wahrgenommene Wehrlosigkeit allmählich über alle Fotos ringsum. Es war nicht so, daß ich beim Verlassen der Toilette dem abgebildeten Tonio hätte zurufen wollen: »Junge, laß dir nicht auf der Nase herumtanzen.« Es ging tiefer. Was ich im Vorbeigehen sah oder zu sehen glaubte, und sei es aus den Augenwinkeln, war der Schimmer eines verletzlichen Lebens.
Ich hatte das bei Fotos ermordeter Kinder bemerkt, wie sie manchmal in der Sendung Opsporing verzocht (Aktenzeichen XY … ungelöst) gezeigt wurden. Rowena Rikkers, das zerstückelte »Mädchen von Nulde« … Die von ihrem Vater mit einem Kissen erstickten Schwestern aus Zoetermeer … Trotz des Vertrauens, mit dem sie in die Kamera blickten, glaubte ich die Vorverkörperung des unvermeidlich Kommenden in ihren lachenden Augen zu sehen.
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