Tonio
Natürlich, man kann einwerfen, daß ich mein Wissen um ihren gewaltsamenTod im nachhinein auf ihr Foto projiziere. Aber vielleicht kann auch eine Projektion, wie ein Vergrößerungsglas oder ein Röntgenapparat, etwas sichtbar machen, das vorher niemandem aufgefallen war.
Wie verhielt es sich mit der unverkennbaren Verletzlichkeit, die ich in Tonios – in so vielen verschiedenen Lebensaltern! – fotografiertem Gesicht entdeckte? Unter dem frechen Schirm der Mütze, mit der er zwischen Merel und Iris stand, hatte er sie genauso wie hinter der Krankenkassenbrille, verkleidet als Dorus. Wie konnte meine anfängliche Rührung angesichts dieser Fotos in anhaltende Beunruhigung umgeschlagen sein?
Ende letzten Jahres ertappte ich mich immer häufiger dabei, daß ich, wenn ich aus dem Wohnzimmer kam, die Toilette einen Stock höher aufsuchte, wo das Badezimmer liegt. Auf dem Weg dorthin hingen ebenfalls Fotos, wenngleich weniger beunruhigende (auch wenn das von Matroos Vos im De Zwart, kurz davor, einem Berliner Freund von mir an die Gurgel zu gehen, gewiß nicht unbelastet ist). Für die seltenen Male, bei denen ich doch das WC im ersten Stock benutzte, erfand ich eine Methode, wie ich meinen Blick, ohne genau hinschauen zu müssen, die Fotos lediglich streifen lassen konnte.
Jetzt . Während ich über der Balustrade auf dem Flur lehnte, zwang ich mich plötzlich, mich ruckartig zur Fotowand hinter mir umzudrehen. Was hatte ich erwartet? Nun, da Tonio sich heute von seiner allerverletzlichsten Seite gezeigt hatte, steckte die beängstigende Wehrlosigkeit nach wie vor in seinem fotografierten Blick, inzwischen jedoch nicht länger als Prophezeiung oder Möglichkeit, sondern als Bestätigung – und das veränderte schlagartig das Gesicht der gesamten Porträtgalerie. Er war tot.
21
Beim Umzug war Tonio vier. Nach dem Sommer sollte er auf das Schreuder Instituut gehen. Die Zeit des Festhaltens (oder, was mich betrifft, der krampfhaften Versuche dazu) war allmählich vorbei. Wir hatten jetzt die ideale Burg gefunden, von der aus wir Tonio nach und nach loslassen konnten, damit er die verschiedenen Ausbildungen für seine Zukunft absolvierte – eine Burg, in die er jeden Moment wieder zurückzuholen war.
Die Möbelpacker waren abgezogen. Pferdedecken lagen noch über den Möbeln. Überall standen kleine Mauern aus Umzugskartons: ein fast vertrauter Anblick, wenn man bedachte, daß ein Teil davon während der zwei Jahre an der Leidsegracht gar nicht ausgepackt worden war.
Ich war todmüde, wie Mirjam. Es war ihr gerade noch gelungen, für Tonio eine Schlafecke in dem vorgesehenen Kinderzimmer zu improvisieren (das allerdings renoviert werden mußte, denn das Parkett war hier von der zerstörungswütigen Brut des Vorbesitzers P. K. Roukema fast zu Splittern zertrampelt worden). Ich schaute noch kurz zu ihm. Er lag, halb freigestrampelt, inmitten seiner nach einem geheimnisvollen System angeordneten Knuddeltücher, zwischen denen eine Badeente schwamm. Der Schnuller war ihm aus dem Mund geglitten, lag aber auf dem Kopfkissen festgeklebt an seiner Unterlippe.
Ich hatte ihn doch prima durch alle Stürme in dieses Bollwerk an Sicherheit gelotst. Er war behütet und wurde, wie es aussah, nicht von bösen Träumen heimgesucht. Wenn in diesem Haus die Dinge mehr oder weniger ihren Platz hatten, würden wir als ersten Raum Tonios Zimmer in Ordnung bringen lassen. Nächste Woche schon mal ein Stockbett bestellen, das wünschte er sich so sehr, damit Freunde bei ihm übernachten konnten.
»Tschüs, mein Junge«, flüsterte ich. »Erschrick morgen nicht über die fremden Wände.«
Ich ging zurück zum Balkon auf der Gartenseite dieser Etage. Mirjam hing mehr, als daß sie saß, auf einem Klappstuhl, auf dem Schoß Cypri, die die erste Erkundungsrunde durchs Haus ebenfalls mit Müdigkeit hatte bezahlen müssen.
»Er schläft«, sagte ich. »Ganz friedlich.«
22
Mijnheer Roukema hatte uns nicht einfach eine Dingdongklingel hinterlassen. Es war ein komplettes Glockenspiel, mit Röhren verschiedener Länge, deren Läuten bis unters Dach schallte. Bei früherem Klingeln war uns die Gewalt noch nicht aufgefallen, jetzt aber, in der Stille nach dem Umzug, erschraken wir. Jemand hielt den Finger auf den Klingelknopf gedrückt, denn es klang wie der Munttoren, der Münzturm, zur vollen Stunde, nur ohne Melodie. Wir standen beide sofort senkrecht.
»Die Klingel kommt weg«, sagte Mirjam. »Tonio kriegt einen Mörderschreck,
Weitere Kostenlose Bücher