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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Auge zutun.«
    So begann ich das neue, beschützte Leben meiner kleinen Familie damit, arglos einen Eindringling aus dem alten, unbeschützten Leben ins Haus zu lassen.
23
     
    Ich nutzte Mirjams und Hindes Abwesenheit dazu, ein paar Leute anzurufen. Nein, meinen Schwiegervater vorläufig nicht: Ich mußte zuerst sicher sein, daß seine Töchter es ihm gesagt hatten. Es war kein Thema, bei dem man aneinander vorbeiredet.
    Meine Schwester hatte an ihrem normalen Telefon seit fünfundzwanzig Jahren den Anrufbeantworter permanent eingeschaltet, und so wunderte es mich nicht, nur ihre Mailbox zu bekommen, als ich endlich ihre neue Mobilnummer anrief. Damit sie nicht gleich zu sehr erschrak, teilte ich mit, ihrem Neffen sei »etwas Ernstes« zugestoßen. Ich bat sie, mich zurückzurufen.
    Und dann mein Bruder, der in Spanien war. Als ich mittags, vor undenklich langer Zeit, mit ihm telefonierte, lebte Tonio noch. Ich hatte ihm ehrlich erzählt, daß es schlecht um seinen Neffen stand, doch irgendwo in der knisternden Stille zwischen den Niederlanden und Spanien war noch Hoffnung gewesen. Jetzt mußte ich ihm die letzte Wahrheit mitteilen. Ich weiß nicht mehr, welche Worte ich benutzte, jedenfalls führte Frans eine Woche später in seiner Grabrede an, ich hätte gesagt: »Der arme Junge hat es nicht geschafft.«
    Zwei älter werdende Brüder mit erstickter Stimme am Telefon, stockend Fragen stellend und Antwort gebend zum denkbar Schrecklichsten – nein, zum undenkbar Schrecklichsten, das trotzdem eingetreten war. Eine Mutter hatte uns großgezogen, die, wenn ihre Kinder loswollten, hysterisch auf alle möglichen hypothetischen Gefahren reagierte undihre Sprößlinge daher daheim behielt und notfalls einsperrte. Jetzt, da eine solche eingebildete Gefahr Wirklichkeit geworden war, wußten wir nicht, wie damit umzugehen. Dazu waren wir nicht erzogen worden.
    »Ich finde das so furchtbar«, wiederholte Frans mit unterdrücktem Schluchzen immer wieder. »Das ist so schrecklich.«
    Mehr ließ sich dazu nicht sagen: Das war schon alles. Er wollte am nächsten Tag mit Mariska und dem Kleinen nach Amsterdam zurückfliegen und dann so schnell wie möglich zu uns kommen.
24
     
    Von Onkel Willy erzählte man sich, daß er, nachdem er die Nachricht vom Tod seines Sohnes vernommen hatte, mit dem Hund ziellos durch die Gegend marschiert war. In langen Schritten, so daß das Tier sich ermutigt fühlte zu rennen. Es zog die Leine mit solcher Kraft straff, daß mein Onkel sich zurücklehnen mußte, um es halten zu können. Nachbarn, die ihm begegneten oder ihn zum x-tenmal vorbeigehen sahen, wußten zu erzählen, daß er mit lauter Stimme ununterbrochen sprach, zu niemandem im besonderen – anscheinend nicht einmal zu seinem Hund.
    Vor noch nicht einmal zwei Stunden hatte ich meinen Sohn sterben sehen. Verspürte ich das Bedürfnis, wie Onkel Willy auf die Straße zu gehen, redend oder nicht redend, notfalls von einem eingebildeten Hund gezogen? Ich saß auf der Couch, äußerlich ruhig, und wartete darauf, daß die Schwestern Rotenstreich von ihrer schweren Mission zurückkamen.
    Ich dachte an das Telefongespräch mit meiner Mutter vor rund zwanzig Jahren, über den verunglückten Willy jr. Sie lebte nicht mehr, genausowenig wie mein Vater, doch ich war gezwungen, mir vorzustellen, wie ich ihr die Nachricht überbringen würde. Nein, nicht telefonisch, das war zu grausam.Ich nahm ein Taxi nach Eindhoven. In meiner Vorstellung wohnte sie noch, allein, in dem Haus im Viertel Achtse Barrier, in dem Tonio Anfang der neunziger Jahre mehrmals zu Besuch gewesen war. Die Klingel. Ihr Schemen hinter der Mattglasscheibe.
    »Du hier? Hättest vorher anrufen sollen, dann …«
    »Mama, es ist was mit Tonio.«
    Ich schob sie sanft vor mir ins Haus. Sie versuchte, steif, immer wieder, sich umzudrehen. »Doch nichts Schlimmes?«
    Wir waren im Wohnzimmer. »Er hat einen Unfall gehabt.«
    Sie setzte sich auf einen Sesselrand, die Hand vor dem Mund, gelbbleich. Die Hand zitterte infolge von Parkinson, so daß es aussah, als gäbe sie sich eine Serie winziger Klapse ins Gesicht. »Sag, daß das nicht wahr ist.«
    »Ich wünschte , ich könnte das sagen.«
    »Oh … schlimm?«
    »Das Schlimmste.«
    Sie begann schniefend zu weinen. Die Hand flatterte steuerlos vor ihrem Gesicht. »Tot?«
    »Tonio ist tot, Mama. Er lebt nicht mehr.«
     
    »Sogar sein kleiner Rücken strahlte.«
    Pausenlos füllten diese Worte meinen Kopf, ausgesprochen von meiner Mutter.

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