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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Um Ostern 1990 blieb Tonio, fast zwei Jahre alt, eine Woche bei meinen Eltern in Eindhoven. Als wir ihn wieder abholten und vor dem Haus aus dem Taxi stiegen, beschlossen wir, nicht zu klingeln, sondern Tonio und seine Großeltern über den hinteren Garten und die Küche mit unserem Besuch zu überraschen.
    Im Wohnzimmer waren die Vorhänge als Schutz gegen die Sonne zugezogen, doch ein schmales Fenster an der Seite war unbedeckt und stand offen. Mein Vater saß am Tisch und demonstrierte Tonio, der neben ihm stand und andächtig zusah, etwas (einen Abschlepp-, Kran- oder Feuerwehrwagen).
    »Hier, an der Stelle, sitzt sonn Dingsken, weißt? Wennde das rausziehst …«
    Meine Mutter beugte sich über den Tisch, ihrerseits ganz im Banne von Tonios atemloser Aufmerksamkeit. Sie hatte sein Haar gekämmt und gebürstet, so daß es jetzt wie eine Wolke, krabbelkindblond noch immer, um Kopf und Schultern stand. Wir drängten uns mit zusammengesteckten Köpfen vor dem schmalen Fenster und hielten es fast für eine Todsünde, diese Szene von Glück und Frieden zu stören. Das taten wir folglich auch nicht, sondern schauten zu, ohne uns zu rühren.
    Plötzlich, durch einen wie auch immer gearteten Ruf des Blutes geweckt, richtete Tonio den Blick über die an dem Auto hantierenden Finger meines Vaters hinweg aufs Fenster. Er sah uns. Seiner Kehle, seinem ganzen kleinen Leib, entfuhr ein langgedehnter Urschrei, wie wir ihn noch nie bei ihm gehört hatten. Es hatte etwas Beängstigendes, wie bei einem Tier in Not, doch in den Untertönen klang es wie Triumphgeschrei. Er rannte völlig durchgedreht herum, zu aufgeregt, auf Anhieb den Weg durch die Küche nach draußen zu finden, so daß wir eiligst hineingingen.
    Tonio mußte, so klein er war, über ein erstaunliches Lungenvolumen verfügen, denn er gab ununterbrochen, ohne dazwischen merklich Luft zu holen, diesen Strom von Lauten von sich, der Freude, Verwunderung und Empörung zugleich war. (Auch Empörung, denn so zahlte er uns wortlos unser langes Fortbleiben heim.) Seine ungestüm rennenden Beinchen brachten zumindest einen gewissen Rhythmus in das hohe, monotone Geheul. Er schlang seine Arme um ein Bein von Mirjam und eins von mir, offenbar fest entschlossen, uns nie mehr loszulassen. Ich blickte von meinem Vater zu meiner Mutter. Ihre Gesichter, zwischen Verblüffung und Ergebenheit schwankend, verrieten: Das war‘s, jetzt sind wir abgeschrieben.
    Später erzählte meine Mutter, daß Tonio in der zweitenHälfte der Woche immer wieder bezweifelt hatte, ob wir ihn, nachdem schon so viel Zeit vergangen war, jemals wieder abholen würden. Nach kurzer Niedergeschlagenheit schien er sich dann jedesmal damit abzufinden. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr mit dem unterbrochenen Spiel fort.
    Tonio war so froh und erleichtert, daß wir ihn nicht vergessen hatten und er wieder nach Hause mitdurfte, daß er sich auf dem Weg zum Taxi, zwischen uns an der Hand, nicht mehr zu seinen Großeltern in der offenen Tür umdrehte. Meiner Schwester erzählte meine Mutter später: »Ach, herrje, das war was … unglaublich … sogar sein kleiner Rücken strahlte.«
     
    Zu Hause führte Tonio mir den Abschlepp-, Kran- oder Feuerwehrwagen vor und sagte: »Hier sitzt sonn Dingsken, weißt?«
25
     
    Halb acht. Der Zeitpunkt, zu dem Tonio kommen wollte, um sein Chow-Minh zu essen. Das heißt, er versprach immer, zwischen halb sieben und sieben Uhr dazusein, und dann wurde es halb acht. Nur wenn er unangekündigt hereinplatzte, war es meist zwischen sechs und halb sieben. Alle genannten Zeitpunkte waren inzwischen weit überschritten, auch der um halb acht.
    Lieber Tonio, du hättest längst hiersein müssen. Wo bist du jetzt? Schon auf der Edelstahlbahre im Keller des AMC oder noch auf dem Totenbett in dem Beduinenzelt aus gelbem Nylon auf der Intensivstation? Wenn sie dich noch nicht mit dem Lastenaufzug nach unten gebracht haben, ist der Gerichtsfotograf, der etwas spät aufgekreuzt ist, jetzt vielleicht endlich dabei, seine Apparate wieder einzupacken. Die Schwester hat das Laken erneut über deinen nackten, geschundenen Körper gelegt und wartet auf eine Kollegin,die zusammen mit ihr das Bett wegrollen kann: Sie hat die Bremsen an den Rädern bereits mit dem Fuß gelöst.
    Gut, soweit der Stand der Dinge, was deinen toten Körper betrifft. Aber du, wo bist du? Wir brauchen nicht von deiner Seele zu reden und ob sie noch, mit zunächst unbeholfenem Flügelschlag nach dem erstmaligen

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