Tonio
Verlassen des Nests, um das Bett herumflattert oder schnurstracks davongeflogen ist. Keine metaphysische Ornithologie jetzt. Es geht mir um die reine Motorik. Die stets flexible Linie, innerhalb deren du dich bewegt und geatmet und gelebt hast. Diese ungreifbare Schlängellinie kann nicht einfach ausradiert sein.
Ich brauche nur die Augen zu schließen, um dich das Wohnzimmer betreten zu sehen. Auf dem Weg in die Küche, um mir etwas einzugießen, gehe ich in dem Moment an der Tür vorbei, als die sich sacht öffnet. Obwohl ich dich erwarte, erschrecke ich, weil ich dich nicht auf der Treppe gehört habe.
»Tonio, mein Herz … brauchen wir nicht mehr anzuklopfen?«
Am Donnerstag hast du dich noch für dieses Fotomädchen rasiert, na komm schon, wie heißt sie … und jetzt unterstreicht ein ordentlicher Stoppelbart schon wieder dein grinsendes Lachen. Zur Begrüßung lege ich dir die Hand auf die Schulter, die warm ist vom Fahrradfahren, wie es sich gehört. Du keuchst leicht vom Treppensteigen, so daß ich ganz aus der Nähe deinen Atem auf meinem Gesicht spüre.
»Wo ist Mama?«
Ich kann jetzt nicht mit der Geschichte ankommen, daß sie mit Hinde zuerst zu Opa Natan und danach zu Oma Wies gefahren ist, um ihren Eltern zu erzählen, was am Morgen, in aller Frühe, ihrem Enkel …
»Zum Suri. Du wolltest doch Chow-Chow, oder?«
»Chow-Minh. Ein Chow-Chow ist ein chinesischer Hund. Himmelnochmal.«
Dein wiederholtes Lachen, unveränderlich mit einemHauch Traurigkeit in den Untertönen (eine Frage der Intelligenz, nur der Narr lacht ungetrübt fröhlich). Wie gewöhnlich riechst du stark nach Zigarettenrauch. Deine Kleider, die regelmäßig von Mirjam gewaschen werden, sind vollgesogen mit abgestandenem Nikotingeruch. Natürlich, der Freund, mit dem du dir die Wohnung teilst, ist seit seinem vierzehnten Lebensjahr ein heftiger Raucher, und außerdem kifft er. Was das Lüften der Zimmer betrifft, seid ihr wie die Bauern, die ihre Fenster vor dem Mistgeruch von draußen verschließen. Bei einem deiner vorigen Besuche habe ich dich geradeheraus gefragt: »Du rauchst doch nicht selbst?«
»Och, ich qualm ab und zu mal eine in der Kneipe«, hattest du geantwortet. »Nur so, um mit den Jungs mitzuhalten.«
Damals beruhigte es mich. Jetzt kommt es mir wie eine ausweichende Antwort vor. Heute abend werde ich dich noch einmal fragen, und dann möchte ich Gewißheit. Komm, Tonio, in drei Wochen wirst du zweiundzwanzig. Kein Versteckspiel mehr. »Was trinken?«
»Ich wart noch auf Mirjam.«
Es ist nicht nur, weil niemand einen Wodka Orange besser, im richtigen Verhältnis, mixen kann als deine Mutter – du möchtest nicht den Eindruck von Gier erwecken. Obwohl ich vermute, daß du ordentlich bechern kannst. Das habe ich übrigens nach der Filmpremiere von Het leven uit een dag gemerkt. (Hoffentlich hast du der Marjan, die mit dir da war, nicht zu viel Ärger gemacht.)
Tygo ist hinter dir die Treppe hochgekommen. Er steht jetzt neben deinen Füßen und wartet darauf, daß du ihn streichelst. Du nimmst den großen Kater mit beiden Händen vom Teppich und läßt dich mit ihm auf die Eckcouch fallen: dein Stammplatz. Während du ihn mit langen Bewegungen streichelst, windet sich Tygo rücklings auf deinen Oberschenkeln. Laß dich mal richtig anschauen, Tonio. Du siehst unbestreitbar gut aus, egal, ob rasiert oder nicht. Die einsdreiundsiebzig sind schade – ein paar Zentimeter kleinerals ich. Damit wirst du dich abfinden müssen, ausgewachsen, wie du inzwischen sein solltest. Du hast kleine Eltern und Vorfahren. Mit genetischen Folgen wie Körpergröße bei einem Kind von uns haben sich Mirjam und ich nie beschäftigt. Ein Mensch fühlt sich erst klein, wenn er von einem Größeren auf sein Format hingewiesen wird. Dabei handelt es sich meist um einen hirnlosen Muskelprotz, der aus seiner Körpergröße nur noch mehr Hirnlosigkeit und Muskelkraft herleitet und dann behauptet: »Wer groß ist, hat bei allem die Nase vorn.«
Neulich hat man sogar rechnerisch nachgewiesen, daß große Männer im Durchschnitt ein höheres Gehalt beziehen als ihre kleineren Geschlechtsgenossen. So wird die einschüchternde Erscheinung eines großen Kerls zusätzlich durch Einstellungskommissionen und Statistikfreaks sanktioniert. Sollen sie sich doch alle den Knöchel verstauchen. Merk dir, fast alle Genies waren klein von Wuchs. Der Abstand zwischen Hirn und Hand wird schneller überbrückt, daran liegt es. Daß es sich um eine Art
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