Tonio
geistiger Sublimierung eines körperlichen Makels handelt, ist Freudscher Quatsch.
»Wie weit sitzen wir jetzt auseinander? Bestimmt vier Meter. Ich kann noch immer den Rauch in deinen Kleidern riechen. Tonio, ich will dich was fragen … etwas, das mich die letzten Tage beschäftigt hat. Schon früher, aber diese Woche wieder. Genauer gesagt seit dem Fotoshooting mit diesem Mädchen, letzten Donnerstag. Du brauchst mir nicht zu antworten. Ich frage dich, weil ich mich selbst damit geplagt habe. Ungefähr von meinem siebzehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahr. Du ähnelst mir in so vielem, und dein Leben jetzt, als Student, stimmt in so vielem mit meinem in dem Alter überein … also … Wenn es dir peinlich ist, dann vergiß es sofort wieder. Tonio, bist du noch Jungfrau?«
26
Auf dem Büchermarkt 2003, fünfzehn Jahre und schon zu alt, um seinem Vater beim Signieren zu assistieren, stand er am Stand des Querido Verlags eine Zeitlang unschlüssig neben mir. Während ich mit vorbeischlendernden Leuten sprach, die alles mögliche über meine nächsten Bücher wissen wollten, hörte ich amüsiert zu, wie Tonio sich verlegen scherzend an Isoude, die Tochter meines Lektors, heranmachte. Sie waren im Alter nur zwei Monate auseinander und hatten sogar zusammen im Laufstall gelegen. Später waren sie jeweils beim anderen auf den Geburtstagsfesten gewesen. Sie hatten im Arti miteinander gespielt. Anstatt sich die alte Vertrautheit zunutze zu machen, hielt er das hübsche Mädchen mit Spott und Scherz auf Distanz. Sie, ihrerseits, ließ sich nicht lumpen und zahlte Tonio mit gleicher Münze heim. Mit zärtlichem Hohn näherten sie sich einander, könnte man sagen.
Später gab er mir die Tasche zurück, die ich ihm zum Aufbewahren anvertraut hatte. »Ich lauf mal kurz mit ihr über den Markt«, sagte er achselzuckend. Dabei grinste er fast entschuldigend. Ich blickte den beiden nach. Tonio zeigte denselben Tick wie ich in dem Alter, wenn ich neben einem Mädchen ging: das unnötige Hochziehen der Schultern, wodurch der Rücken etwas Buckliges bekam.
27
Tonio saß zwar in meiner Einbildung schräg gegenüber auf seinem Stammplatz der letzten Jahre, doch ich besetzte die durchgesessene Couch, die ihm von Rechts wegen und seit eh und je zustand. Nicht einmal visionär vermochte ich ihn zu einer Antwort zu verleiten.
Wie er an den morgendlichen Zärtlichkeiten mit seiner Mutter hing …
Zu früher Stunde, kurz nach dem Sommer unseres Umzugs, wachte ich auf, weil unsanft an meinem Arm gezerrt wurde. Es war Tonio. Ich lag auf der Wohnzimmercouch, wo ich nach einem nächtlichen Glas eingeschlafen war. Lachend, entrüstete Schreie ausstoßend, hing er an meinem Arm. In seinem kleinen Körper spürte ich die Kraft, mit der er mich auf den Boden zu ziehen versuchte. Diese Couch, das war sein morgendliches Reich, und es wurde von meiner massiven schlafenden Anwesenheit entweiht. Ich gab mich geschlagen und ließ mich auf den Teppich fallen, wo ich pro forma noch ein wenig hin und her rollte. Er kreischte triumphierend. Und immer noch war die Wiedereroberung nicht komplett: Ich wurde aus dem Zimmer gejagt. Ich sah noch gerade, wie Mirjam mit einer Schnullerflasche voll verdünnter Schokomilch aus der Küche kam. Bevor er sie nahm, kontrollierte er wie jeden Morgen den Inhalt.
»Bis zum Rand, nicht zu heiß, oder?« fragte er dann.
»Ganz voll und nicht zu warm. Fühl mal.«
Kurz darauf streckte ich den Kopf um die Tür. Tonio saß, an seine Mutter geschmiegt, auf der Couch und saugte unter trägem Blinzeln an der Flasche, während er sich ein Video mit seiner Lieblingsente Alfred Jodocus Kwak ansah. Dabei wedelte er mit einem Tuch aus genopptem Stoff, als verjage er Fliegen. Von Zeit zu Zeit zog er den Sauger aus dem Mund, um die Flasche gegen das Licht zu halten: So überprüfte er, wie weit der Inhalt bereits verschwunden war und wie lange dieser paradiesische Zustand zwischen Bett und Kindergarten noch dauern würde. Es war seine Uhr, sein flüssiges Stundenglas.
28
Tonio war schon seit Stunden tot, und ich hatte noch immer keinen Selbstmord begangen. Ich sollte mich fragen, was Dinge wie Feigheit, mangelnde Solidarität, Gefühlskälte bedeuteten. Wenn er entführt worden wäre oder vermißt, würde ich jetzt an unmögliche Orte laufen, atemlos, um ihn zu suchen. Auf sein Sterben hatte ich keine Antwort.
Als Junge hatte ich Zwangsvorstellungen. Angenommen, ich müßte meiner Mutter die Nachricht überbringen,
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