Tonio
daß mein Bruder oder meine Schwester verunglückt sind. Ich stellte den Kummer meiner Eltern über meinen. Mehr noch, ich hatte buchstäblich eine tödliche Angst vor ihrem Kummer. Lieber mir selbst das Leben nehmen, als mit ihrer maßlosen Verzweiflung konfrontiert zu werden. Dilemma: Mein Selbstmord würde ihre Verzweiflung um hundert Prozent steigern, wenngleich ich sie dann nicht miterleben müßte.
Selbst Vater geworden, war ich von meinen Zwangsvorstellungen nicht erlöst. Wenn ich mein Kind verlöre, könnte ich dann weiterleben, oder würde ich den Schmerz verkürzen, indem ich mich möglichst schnell umbrachte? Es gab auch noch Minchen, für die ich zu sorgen hatte. Ich könnte ihr einen Doppelselbstmord als Schmerzstiller vorschlagen.
Ich bog mir die Moral irgendwie zurecht, was nicht weniger als ein Zwangsgedanke war. Ich dachte an die Makelaarsbrug und an den gefährlichen Kindersitz und gelangte zu dem Schluß, daß ich Selbstmord begehen würde, wenn ich Schuld am Tod meines Kindes trüge.
Das Dilemma heute abend war, daß ich mich an Tonios Tod gar nicht schuldig genug fühlen konnte . Es brauchte kein untauglicher Kindersitz herzuhalten, um mich als Verantwortlichen auszuweisen. Ich hatte seinen Tod nicht verhindern können, und das war Anklage genug. Zugleich wollte ich nicht, daß Mirjam heute mit einem zweiten Leichnam konfrontiert würde. Ich durfte das Unterdrücken meiner Schuld nicht höher bewerten als den Trost und die Fürsorge für sie.
Je länger ich darüber nachdachte, während ich auf Mirjam wartete, um so hinfälliger wurde die Sache mit dem Selbstmord. Tonio war tot, und im Vergleich dazu wäre meine eigene Auslöschung lächerlich.
29
Es war zu erwarten, daß jetzt, da unsere Ehekrise beendet war, alle möglichen Leute sich nach Kräften bemühen würden, den Konflikt noch eine Weile künstlich am Leben zu erhalten.
»Schon gehört? Die Krise ist beigelegt.«
Nein, deshalb steckten die Leute die Köpfe am Kneipentisch nicht zusammen. Die Leute wollten Drama, und wenn das rationiert war, wurden sie eben selbst kreativ.
Monate nach unserer Versöhnung und dem Einzug in das neue Haus erzählte meine Schwiegermutter, selbst dabei, meinen Schwiegervater zu verlassen, »im Gemeindehaus« sei es ausgemachte Sache, daß wir, also ihre Tochter und ihr Schwiegersohn, »auseinandergingen«. Sie war bei uns zu Besuch. Wir saßen im Wohnzimmer und tranken Tee. Tonio spielte auf dem Fußboden.
»Was meinst du denn, Mama?« fragte Mirjam, in ihrer Stimme diese spezielle Schärfe, die sie für ihre Mutter reservierte.
Bevor sie zum Angriff überging, fuhr sich Wies immer schnell mit Daumen und Zeigefinger über die Nase. »Na ja, hör mal … die Leute sagen so was doch nicht ohne Grund.«
Ich blickte zu Tonio in der Ecke … An seinem reglosen Rücken konnte ich erkennen, daß er aufgehört hatte zu spielen. Die Worte seiner Oma hatten ihn alarmiert. In jeder Hand einen Klumpen Legosteine, hörte er mit gespitzten Ohren zu. Tonio mußte schon die unbegreifliche Nachricht verarbeiten, daß seine Großeltern (sie fast siebzig, er achtzig) sich demnächst trennen würden. Jetzt kam Oma Wies mit der Mitteilung, aus erster Hand »im Gemeindehaus«, an, bei seinem Vater und seiner Mutter passiere das gleiche.
Trennung.
»Nein, nicht wahr«, sagte Mirjam noch schärfer, »die Leute sagen so was doch nicht ohne Grund. Verleumdung, da mußdoch ein Kern von Wahrheit drinstecken. Oder? Wenn es nicht sogar die ganze Wahrheit ist. Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Aber dann sag mal, Mama , was sind deine Eindrücke, wenn du hier auf der Couch sitzt, in unserem neuen Haus? Merkst du was von einer bevorstehenden Ehescheidung?«
»Na ja, Mirjam … ich erzähle ja nur, was ich im Gemeindehaus gehört habe. Sonst nichts.« Und nach einigem Nachdenken: »Die Leute sagen so was doch nicht ohne Grund.«
Tonio hatte sein Spiel nicht wiederaufgenommen. Er drehte den Kopf und blickte mit großen, ernsten Augen auf die Tee trinkende Gesellschaft.
»Wies, abgesehen von allem, was du so hörst und unbesehen glaubst«, sagte ich, »kannst du es eigentlich verantworten, das hier in Gegenwart deines Enkels zu wiederholen? So ein vierjähriges Kind hat auch Ohren und vor allem … Gefühle. Du hättest wenigstens bei Mirjam oder mir nachfragen können, was von dem Gemeindehausgeschwätz stimmt.«
Sie zuckte mit den Achseln und blickte auf ihre Schuhspitzen. »Ich meine doch nur, daß die Leute so was nicht
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