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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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sitzen wir, zwei Menschen mit einem Problem. Es gab kein Problem, weil eine Lösung ein für allemal ausgeschlossen war. Der Tod mochte annähernd noch als Problem gelten: Wie verhalten wir uns gegenüber dieser scheißunwiderruflichen Tatsache? Ein Toter, der war zu tot, um ein Problem darzustellen.
    Mirjam nahm einen Schluck, stellte ihr Glas auf das Beistelltischchen zurück und schob es so weit wie möglich von sich. Der Alkohol schmeckte ihr nicht. Sie legte den Kopf an meine Schulter, von wo er von selbst auf meine Brust sank und dann weiter in meinen Schoß. Sie weinte fast unhörbar, mit einem leise säuselnden Geräusch, wie Wasser, das im Kessel summt. Alles, was sie noch sagte, paßte in einen langgedehnten zittrigen Seufzer.
    »Unser kleiner Junge.«

 
    Intermezzo
     
    15. September 2010

 
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer‘s lease hath all too short a date.
    Shakespeare, Sonett 18
1
     
    Die blinde Mauer ist wieder da.
    Eigentlich haben wir unser Haus der geringen Größe des Gartens zu verdanken. In den Jahren, in denen es leerstand, von ‘89 bis ‘92, zeigten eine ganze Reihe von Ehepaaren Interesse daran, sich zusammen mit einem zweiten Ehepaar das große Anwesen zu teilen und für eine Doppelbewohnung einzurichten. Ihre Begeisterung erlosch dem Makler zufolge jedesmal beim Anblick des Gartens: nicht viel mehr als ein von zwei hohen Hauswänden, einem Zaun und einer Schuppenseite umschlossener kleiner Innenhof. Der abgesackte, grün angelaufene Steinfliesenboden wogte bei jedem Schritt wie ein Cakewalk. An Vegetation gab es nicht mehr als den spärlichen Ansatz zu einem Goldregen – sah man einmal vom glitschigen Moos auf den Steinplatten ab. Wie konnte man hier Kinder aus zwei Familien spielen lassen?
    Für mich stellte die kleine Fläche kein Problem dar – um so weniger Gartenarbeit an Samstagen. Mirjam sah sofort, in welche Ecke ein abdeckbarer Sandkasten für Tonio paßte und daß dann noch genug Platz übrigblieb, um ab und an mit ein paar Leuten draußen zu essen. Ein befreundeter Künstler, zugleich Landschaftsarchitekt, versprach, den Innenhof zu gegebener Zeit in ein dachloses »Gartenzimmer« umzufunktionieren, was immer das sein mochte; aber dazu kam es nie.
    Ich störte mich mehr an der blinden, kahlen Mauer, auf die unsere rückseitigen Fenster gingen. Es war die Seitenfassade eines Häuserblocks, der, zwischen Johannes Verhulst und De Lairesse eingeklemmt, zur Banstraat gehörte. Völlig blind war die hohe Mauer im übrigen nicht. Abgesehen von einigen Lüftungsgittern befand sich links, Richtung Vorderfront, ein kleines Badezimmerfenster, zur Hälfte verborgen hinter einem Büschel verdorrten Efeus. Hinter der Mattglasscheibe brannte selten Licht.
    Die Aussicht hatte dadurch etwas Schäbiges, als ob man auf Bahngleise schaut, und beinahe wäre der Kauf daran gescheitert. Die Natur löste das Problem für mich. Am Fuße der Mauer hatte der heruntergeschnittene Efeu neu ausgeschlagen, und die frischen Triebe hatten sich vorsichtig auf den Weg Richtung Dachgesims gemacht. Im Laufe der Jahre überzog sich die häßliche Seitenfassade mit einem glänzenden Blätterteppich, an dem eine vorbeistreichende Brise mitunter sämtliche Grüntöne aufleuchten ließ, die sich wie in einem Mosaik bewegten.
    In den achtzehn Jahren, die wir hier wohnten, von Sommer 1992 bis Sommer 2010, war der Efeu, der immer dichter wurde, an manchen Stellen bis zu einem Meter dick, nie zurückgeschnitten worden. Vögel nisteten in ihm. Im Frühjahr 2007, als ich ein paar Monate lang in Zuid-Limburg arbeitete, ließ Mirjam, um mich beim Nachhausekommen zu überraschen, den schmuddeligen kleinen Innenhof mit italienischem Stuck und einem neuen Steinfußboden aufmöbeln. Alles in Altrosa und Ziegelrot. Dazu kam eine Veranda, eineinhalb Meter über Gartenniveau, mit Flügeltüren zur Bibliothek und einer Verschattung.
    Auch der mickrige Goldregen war im Laufe der beinahe zwanzig Jahre gewachsen und spannte seine Krone weit über den kleinen Garten. Bei schönem Wetter saßen wir dort immer häufiger, auch abends, in kühleren Stunden durch die hohen Fassaden geschützt. Gartenfreunde unter unseren Besuchern machten immer öfter Bemerkungen über die Dichte des Efeus.
    »Was glaubst du, was für ein Gewicht an diesen Saugnäpfen hängt …« sagte ein Freund. »Wenn das alles runterkommt, besteht die Gefahr, daß es die gesamte Außenmauer mitzieht. Dann siehst du auf einmal den Nachbarn,

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