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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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wie er unter seiner Schirmlampe Zeitung liest.«
    Das wäre dann der gute Max Nord, der damals noch bei Leben und guter Gesundheit hinter dieser Seitenmauer wohnte, und das wollte ich nicht auf dem Gewissen haben. Anfang des Jahres nahm ich mir vor, den Efeu im Frühsommer zurückschneiden zu lassen – und dann war auf einmal der Schwarze Pfingstsonntag da, der dieses Vorhaben beiseite fegte. Der dicke grüne Wandteppich mit dem allmählich verblühenden Goldregen davor diente von dem Moment an als Kulisse für unsere täglichen Verzweiflungsgespräche. Hier, auf unser Zweierbank in der kleinen Laube, hatte Tonio drei Tage vor seinem Tod mit dem Fotomädchen gesessen. Alles darum herum sollte möglichst weitgehend und möglichst lange intakt bleiben.
    Weil wir auch an die Nachbarn denken mußten, die um ihre Hauswand bangten, vereinbarten wir mit den Leuten, die uns bei allen anfallenden Arbeiten halfen, daß die Zurückschneideaktion auf Februar verschoben werden sollte.
2
     
    Gestern abend, als ich gegen Mitternacht ins Bett ging, war es noch nicht passiert. Wie gewöhnlich trat ich kurz auf den Schlafzimmerbalkon hinaus, um meine Lungen, die gar keine frische Luft mehr bekamen, ein paarmal gründlich vollzusaugen. Ich nahm mir vor, Mirjam zu bitten, mich im kommenden Herbst zu entlegenen Wäldern und Stränden zu fahren, damit ich dort spazierengehen konnte, ohne Gefahr,Bekannten zu begegnen und ihnen meine Geschichte erzählen zu müssen.
    Die Efeublätter glänzten im Schein des Mondes, der erst nach eins untergehen würde. Wenn zu diesem Zeitpunkt bereits etwas nicht in Ordnung gewesen wäre, hätte ich es bemerkt. Die Nacht war klar und ruhig, sofern eine Stadt zu dieser Stunde ruhig sein kann. Sirenen von Rettungs- und Streifenwagen würde ich nie mehr hören können, ohne zu denken, daß sie in Richtung Stadhouderskade fuhren.
    Heute morgen, fünfzehnter September, schien es auf einmal Herbst geworden zu sein. Noch bevor ich die Vorhänge im Schlafzimmer aufzog, hörte ich Regen und Wind. Es hatte etwas unendlich Vertrautes, diese kahle, blinde Mauer gegenüber. Ich fühlte mich in die frühen neunziger Jahre zurückversetzt, als der Efeu erst die untersten Meter der Mauer mit einer dünnen Blätterschicht überzogen hatte.
    Ich schlüpfte in meine Pantoffeln, öffnete die Balkontür und trat hinaus. Ich beugte mich über die Balustrade. Unten im kleinen Garten herrschte ein wüstes Durcheinander. Die dicke Efeuschicht war, vielleicht durch einen harten Windstoß, wie ein großer, schwerer Vorhang abgerissen und zu Boden gesunken. Wegen des begrenzten Raums zwischen der Mauer und unserer Veranda hatte sich der Efeubewuchs während des Falls auf natürliche Weise aufgerollt, so daß dort jetzt eine riesige Kokosmatte zu liegen schien, bereit, mit Teppichklopfern von der Größe eines Telegrafenmasts bearbeitet zu werden. Der grüne Gobelin, auf den wir früher immer mit so viel Wohlgefallen geschaut hatten, kehrte uns jetzt seine Rückseite zu: ein bizarres Muster aus Kletterstengeln oder Hängewurzeln, schön und rätselhaft wie die Unterseite eines Perserteppichs.
    Die Blätterlawine hatte die noch ranke Eiche mit ihrem biegsamen Stamm einfach zur Seite gedrückt, doch der Goldregen schien ganz und gar, mitsamt eingedrückter Krone, von der großen Rolle verschlungen worden zu sein: eineLeiche in einem aufgerollten Kaminvorleger. Als ich genau hinschaute, sah ich, daß die Spitze des Baums durch die Efeumatte ragte, wie es aussah zu weit von der Stelle entfernt, an der die Wurzeln noch im Boden stecken mußten. Der Goldregen, der im Laufe von achtzehn Jahren gemeinsam mit Tonio der Reife entgegengewachsen war und dessen Trauben er noch kurz vor seinem Tod in Blüte gesehen hatte, war dahin.
    Die blinde Mauer war wieder da. Ganz links hing, zerrupft, ein dichter Efeustrang, der das Badezimmerfenster zur Hälfte den Blicken entzog. Auch ganz unten, dicht oberhalb des Steinplattenplatzes, war noch ein Streifen Grün geblieben, wie eine Art Schürze oder Lendentuch der Hauswand.
    Es war acht Uhr morgens. Der Efeu mußte also zwischen zwölf Uhr nachts und ungefähr Viertel vor acht abgerissen und zu Boden gesunken sein. Wie war es möglich, daß ich keine brechenden Stengel, kein Lawinengetöse gehört hatte?
    Mirjam war um halb sieben ins Fitneßstudio gefahren. Sie konnte die Verwüstung noch nicht gesehen haben, sonst hätte sie mich geweckt. Ich rief sie auf dem Handy an und hinterließ ihr eine Nachricht

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