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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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ohne Grund sagen.« Daß sie ihre Stimme dabei senkte, war möglicherweise ein Zugeständnis an Tonios Gefühle.
    Vielleicht war es ebenfalls aus Rücksicht auf seine Gefühle, daß ich seine Oma damals nicht hochkant die Treppe hinuntergejagt habe.
30
     
    Da waren die Schwestern Rotenstreich – fix und fertig von der Nachricht, die sie hatten überbringen müssen, und von deren Wirkung auf die alten Menschen. Von sich aus erzählten sie nichts, also drang ich nicht in sie.
    »Du, Minchen«, sagte ich, »wir haben jetzt mühelos zwei Wochen lang keinen Tropfen getrunken. Heute abend schaffe ich es nicht ohne Betäubung.«
    Mirjam und ich nahmen beide eine der Pillen aus demKrankenhaus und spülten sie mit etwas Wodka hinunter. Hinde nicht. Sie belegte eines der Brötchen, die Mirjam morgens in der Küche aufgeschnitten hatte, als es klingelte. Völlig vertrocknet waren sie noch nicht trotz der sommerlichen Wärme, die den ganzen Tag über angehalten hatte.
    »Also, nun erzählt schon«, fragte ich matt (ich mußte meine eigene Reaktion noch kennenlernen), »wie haben eure Eltern reagiert?«
    »Mein Vater blieb ziemlich still«, sagte Hinde. »Er hat nicht viel gesagt. Er ist ja ohnehin ein verschlossener Mensch, aber jetzt ganz besonders. Sehr betroffen war er natürlich, aber das muß man bei ihm erraten.«
    »Meine Mutter fing gleich an zu schreien«, sagte Mirjam. »Sie hat in einer Tour gerufen, sie fände es so schrecklich für mich. Das klang immerhin sehr echt, das muß ich zugeben.«
    Ich kann mich wegen der Pille und des Wodkas nur an wenig erinnern, worüber an dem Abend sonst noch geredet wurde. Jeder von uns dreien saß unter seiner eigenen Glocke dumpfer Fassungslosigkeit. Mirjam weinte immer wieder heftig.
    »Das ist nicht möglich … das ist nicht möglich.«
    Ja, ich habe mit meinem Schwiegervater telefoniert, aber ich weiß nicht mehr, ob die Initiative von ihm oder von mir ausging. »Ich habe heute den Fernseher ausgeschaltet«, sagte er mit seinem noch immer wundervollen polnischen Akzent, »und dann hab ich eine Weile mit mir selbst geredet. Warum, hab ich mich gefragt, warum ein noch nicht mal zweiundzwanzigjähriger Junge? Und warum muß ich, ein alter Mann von siebenundneunzig Jahren, weiterleben? Warum?«
31
     
    »Mußten wir vielleicht bestraft werden«, rief Mirjam später aus, »weil wir es zu dritt so gut hatten … weil wir so ein ideales Dreiergespann waren?«
    Zum erstenmal an diesem Tag hatte ihr Weinen einen wütenden Unterton. Sie sah mich durch ihre Tränen hindurch scharf an.
    »Minchen, soweit wir bisher wissen«, sagte ich schlaff, »war hier das blinde Schicksal am Werk … und das blinde Schicksal teilt keine gezielten Strafen aus.«
    »Warum fühlt es sich dann aber so an? Es fühlt sich wie eine Bestrafung an. Wegen der Arroganz, mit der wir es wagten, es so gut miteinander zu haben.«
32
     
    »Wenn ihr zwei es jetzt schafft«, sagte Hinde, »dann geh ich nach Hause. Es wird wohl keine gute Nacht werden, auch für mich nicht, aber … ich geh doch in mein eigenes Bett. Dixie ist auch noch da.«
    »Wenn du es zu Hause nicht aushältst«, sagte Mirjam, »dann komm her. Du hast den Schlüssel.«
    Hinde versprach es. Dixie war ihre Katze.
    »Ich lege Bettzeug hier auf dieses Sofa.« Mirjam deutete auf die Chaiselongue vor dem Fernseher. Wir umarmten Hinde zum Abschied und dankten ihr für Hilfe und Beistand an diesem Tag.
    »Darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren«, sagte sie.
    Mirjam begleitete ihre Schwester nach unten. Sie standen eine Weile in der Diele, redeten und weinten. Nachdem die Haustür zugefallen war, hörte ich Mirjam die Treppe heraufkommen. Sie ging am Wohnzimmer vorbei und stieg langsam die Stufen zur Schlafetage hinauf. Am Beginn der schrecklichsten Nacht meines Lebens ließ sie mich allein.
    Ich blieb reglos sitzen und lauschte. Oben klappten Schranktüren auf und zu. Absätze auf dem Parkett. Ich hatte sie die Treppe nicht herunterkommen hören: Auf einmal war sie wieder im Wohnzimmer, unter dem einen Arm ein Kopfkissen, unter dem anderen zusammengefaltete Lakenund Decken. Sie legte das Bettzeug auf die Chaiselongue und setzte sich neben mich auf die Couch.
    Wir schwiegen. Zu erschöpft, zu betäubt, einander zu trösten. Das Valium und der Wodka taten ihre Wirkung, und wir trieben die Abstumpfung mit neuen Dosen Alkohol gierig weiter. Nachdenken, das tat man, wenn nach einer Lösung gesucht werden mußte. Ich konnte nicht einmal denken: Hier

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