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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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halten. Vielleicht ist das am ehesten im Sinne des Verstorbenen. Obwohl wir darüber nie gesprochen haben. Wenn seine Zukunft zur Sprache kam, sah die ganz anders aus.«
    »Dann kommen wir zur Aufbahrung von Tonio«, sagte die Frau. »Er ist zur Zeit in der Leichenhalle des AMC . Sie erteilen uns die Erlaubnis, ihn von dort abzuholen … Er wird dann in einer unserer Trauerhallen aufgebahrt. Wahrscheinlich der in Amsterdam-Oost … da muß ich nachschauen. Möchten Sie ihn dort noch einmal sehen?«
    »Wir haben beschlossen«, sagte Mirjam, »daß wir uns an Tonio so erinnern wollen, wie er kurz nach seinem Tod dalag. Da sah er noch ganz so aus wie der Tonio, den wir gekannt haben … den wir so sehr geliebt haben. Darüber darf sich kein anderes Bild mehr legen.«
    »Aber soll er dort trotzdem aufgebahrt werden?« fragte die Frau. »Ich meine, für eventuelle andere Besucher.«
    »Ja, aber er soll schön aussehen«, sagte ich. »Ein paar Freunde werden ihn bestimmt noch einmal sehen wollen.«
    Die Frau fragte, welche Kleidung wir Tonio im Sarg mitgeben wollten. Mirjam ging nach oben, um sein Ausgehjackett zu holen, das er unlängst auf dem Bücherball getragen hatte und bei der Premiere von Het leven uit een dag . Als sie in die Bibliothek zurückkam, hing Tonios Lieblingshemd über ihrem Arm: Das hatte er am Donnerstag angezogen, kurz bevor das Mädchen zum Fotoshooting eintraf. Es gehörte nicht zu seiner Arbeitskleidung: Er wollte sich schön machen für sie. Genauso wie er sich rasiert hatte. Nach der Fotosession und dem Abschied des Mädchens war Tonio in ein T-Shirt geschlüpft und hatte das Hemd dagelassen – bestimmt nicht mit dem Hintergedanken, es könne ihm im Sarg noch nützlich sein.
    Mirjam hatte auch eine seiner Jeans mitgebracht. »Ich werde die Sachen heute noch waschen und bügeln.«
    »Gut«, sagte die Frau. »Wann können sie abgeholt werden?«
    »Wenn es sein muß, noch heute abend«, sagte Mirjam.
    »Ich muß allerdings dazusagen«, ergänzte ich, »daß sein Oberkörper durch die inneren Blutungen stark angeschwollen ist. Es könnte sein, daß ihm das Hemd nicht mehr paßt …«
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte die Frau und erhob sich. »Damit haben wir Erfahrung.«
    Ich fragte nicht weiter, vermutete aber, daß sie Tonios stolzes Hemd, mit dem er Eindruck auf das Fotomädchen machen wollte, am Rücken aufschneiden würden, damit es lockerer saß.
    Nachdem wir die Regie bei Tonios Beerdigung der Dame vom Bestattungsunternehmen übertragen hatten und sie gegangen war, setzten wir uns – beide plötzlich todmüde – auf die Terrasse und warteten auf den Besuch. Frans und Mariska mußten bereits in Schiphol gelandet sein. Vielleicht gaben sie Mariskas Eltern, die auf Daniël aufpassen sollten, gerade Anweisungen, oder sie waren schon auf dem Weg zu uns, mit der Straßenbahn oder im Taxi.
    In Wunschloses Unglück erzählt Peter Handke, wie man im Elternhaus seiner Mutter nach dem Tod ihrer Brüder (es ist 1942) »begriffsstutzig aneinander vorbeischaute«. So schauten auch Mirjam und ich an diesem Nachmittag »begriffsstutzig aneinander vorbei«. Es war, als schämten wir uns voreinander, weil wir, in einem Prozeß des Bietens und Aushandelns, Tonio viel zu leichtfertig einem leichenverarbeitenden Betrieb überlassen hatten.
8
     
    Immer wieder wird leicht vorwurfsvoll festgestellt, die Menschen seien »so schlecht vorbereitet auf den Tod«. Ich konnte bestätigen, daß das stimmte und auch auf uns zutraf. Worauf wir ebenfalls miserabel vorbereitet waren: den Empfang von Kondolenzbesuch. Falls es ein Buch mit Benimmregeln dafür gab, hatte ich es nie zu Gesicht bekommen.
    Jahrelang hatten Josje und Arie uns zusammen mit ihrer kleinen, in Schüben größer werdenden Tochter Lola besucht. Das erste, wonach das Mädchen jedesmal fragte, war Tonio, der dann meist mit Freunden in seinem Zimmer saß, ein großes Plakat an der Tür: GENIUS AT WORK . Sie war stets willkommen. Tonio war so höflich, sie unten abzuholen und, wenn sie sich bei den großen Jungs langweilte, wieder zurückzubringen.
    Es war ungewohnt, daß Lola, inzwischen elf, fast zwölf Jahre alt, an diesem Abend nicht mitgekommen war – mit dem einzigen Vorteil, daß ich mich nicht versprechen konnte, indem ich daran erinnerte, daß Tonio jetzt eine eigene Wohnung hatte. (»Ich werde dafür sorgen, Lola, daß er bei eurem nächsten Besuch hier vorbeikommt.«)
    Ich setzte mich mit Arie auf die Veranda, wo mein Bruder und seine

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