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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Kind zu verlieren und mit diesem Verlust weiterzuleben. Die Nachbarin verlor ihr bildhübsches Töchterchen durch Leukämie. Ich sollte als wohlerzogener Junge einen Blick ins Vorderzimmer werfen, in dem das Mädchen aufgebahrt lag. Sie war nicht mehr hübsch. Ihre Wangen waren durch die Medikamente oder durch die Krankheit selbst schwabbelig auf dem bestickten Kissen auseinandergeflossen. Die Nachbarin, die mich lächelnd zur Bahre geführt hatte, konnte plötzlich nicht mehr an sich halten. Sie warf die Arme hoch und rief in einem Heulkrampf: »Mach doch noch ein mal die Augen auf.«
    Es ist mir im Dialekt in Erinnerung geblieben, wodurch es noch schmerzlicher klang: »… Oochen …«
    Die Gegenleistung, die von dem Kind für alle künftige Trauer erwartet wurde, war sehr gering, wurde jedoch nicht erbracht. Die Oochen blieben geschlossen.
    Meine Schwester hatte eine Freundin mit hellblondem Haar und dicken, bleichen Beinen. Antoinette. Sie wurde Der Weiße Elefant genannt, zugleich aber respektvoll behandelt, denn ihr älterer Bruder war als Siebzehnjähriger mit dem Moped verunglückt. Man erzählte sich, daß der Vater des Jungen »noch jeden Abend« vor dem Schlafengehen aus der Haustür trat, die paar Schritte zum Rand des Bürgersteigs ging und von dort nach beiden Seiten die Straße entlangspähte, als erwarte er seinen Sohn jeden Moment.
    Vierzig Jahre lang war dies für mich das Bild des Mysteriums, eines Vaters, der seinen Sohn verloren hatte: ein Mann, der die Haustür angelehnt ließ und im Laternenlicht die Ohren spitzte, ob er das melodische, leicht knatternde Geräusch des Mopedmotors hörte.
    Jetzt bin ich dieser Mann.
10
     
    Während Mirjam mit Josje auf dem Friedhof Buitenveldert an der Fred. Roeskestraat einen Platz für Tonio auswählte, versuchte ich in meinem Arbeitszimmer, einen Trauerbrief zu verfassen. Wir hatten dem Bestattungsunternehmen mitgeteilt, ich würde ihn selbst schreiben und wir wollten ihn nicht drucken lassen, sondern auf meinem Gerät fotokopieren, so wie ich, der computerlose Mann, es mit allem, was ich schrieb, zu tun pflegte. Nein, sie brauchten es auch nicht für uns zu versenden: Ich wollte, soweit es mir möglich war, auf jede Kopie des Standardbriefs mit der Hand eine persönliche Nachricht schreiben und ein Foto von Tonio beilegen.
    In seinem ersten (und einzigen) Jahr an der Amsterdamer Fotoakademie hatte sich Tonio an einer Gruppenaufgabe beteiligt: dem wirklichkeitsgetreuen Remake eines Porträts von Oscar Wilde. Ein Original mußten sie selbst auftreiben: Das war Teil des Lehrplans. Eines Mittags kam er, außer Atem vom Treppenrennen, in mein Arbeitszimmer.
    »Adri, was weißt du über Oscar Wilde?«
    »Willst du jetzt endlich mal ein Buch lesen?«
    »Es ist so … wir haben die Aufgabe, ein Porträt von Oscar Wilde möglichst getreu nachzugestalten. Aber wir konnten noch kein gutes Foto von ihm auftreiben. Nur so verschwommenes Zeug im Internet.«
    »Du hättest dir das Treppensteigen sparen können. In der Bibliothek stehen ein paar Bücher über ihn, mit Fotos.«
    Ich ging mit ihm nach unten und zeigte ihm die schönsten Bilder des Schriftstellers. Er mußte lachen: daß ich bloß zwischen zwei Borde zu greifen brauchte … und die Sache war geritzt. Mit der ihm eigenen Treffsicherheit schlug er sofort das Foto des jungen Wilde auf, das letztendlich für die Aufgabe verwendet wurde.
    »Da sind auch ein paar von dem schon etwas reiferen Wilde drin.«
    Ich suchte das bekannte Foto des massigen Oscar mit Bowler in der Hand, flankiert vom zarten Bosie, und fand auch das Remake mit Gerrit Komrij als Oscar Wilde und Charles Hofman als Bosie. »Siehst du, so mußt du das machen.«
    »Besser doch das andere, mit dem Spazierstock. Da ist er viel jünger. Du mußt bedenken … einer von uns muß posieren. Und keiner ist älter als zwanzig.«
    Auf dem Flohmarkt am Waterlooplein fanden sie für wenig Geld einen abgetragenen Pelzmantel, der in der richtigen Beleuchtung richtig schick wirken würde. Leider kontrollierten sie den Mantel nicht auf lebendes Inventar hin, und so waren nach der Fotosession nicht nur Tonio (der noch zu Hause wohnte), sondern auch Mirjam und ich infolge einer ungeschickten Verwechslung der Kopfkissen von Nissen befallen. Wie in Tonios Grundschulzeit kamen wieder Flitshampoo und Läusekamm zum Einsatz.
    Weil Tonio seinen Babyspeck noch nicht ganz verloren hatte und zudem die richtige Haartracht besaß, war er der Geeignetste für die Rolle des

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