Tonio
Oscar Wilde. Die Gruppe erhielt die Bestnote, eine Zehn, für das Resultat. Mirjam und ich beschlossen, dieses Foto jedem Trauerbrief beizulegen, weil es ihn im Zentrum seiner großen Leidenschaft zeigte, der Fotografie – als Porträtierer und als Porträtierter. Mirjam hatte im Fotoladen vorerst zweihundert Abzüge bestellt, im Format DIN A 5.
II
Amsterdam, 25. Mai 2010
Am Sonntag, dem 23. Mai, frühmorgens, wurde unser Sohn Tonio (geboren am 15. Juni 1988) auf dem Fahrrad von einem Auto erfaßt. Es geschah an der Ecke Hobbemastraat/Stadhouderskade. Chirurgen im amc haben von halb fünf Uhr morgens bis halb fünf Uhr nachmittags gemeinsam mit ihm um sein Leben gekämpft. Er hat es nicht geschafft. Tonio ist kurz nach Verlassen des OP -Saals in unserem Beisein gestorben. Er war unser einziges Kind. Als Student des Studiengangs Medien & Kultur stand er ambitioniert mitten im Leben. Er hatte uns gerade mitgeteilt, daß er seinen Master in Medientechnologie machen wollte. Es hat nicht sollen sein.
Er läßt uns gebrochen zurück.
Wir bitten um Verständnis dafür, daß Tonio im denkbar kleinsten Kreis beigesetzt wird und daß wir vorläufig keinen Besuch zu Hause empfangen können.
Mirjam und Adri
Beilage: Selbstporträt von Tonio als Oscar Wilde (2006), aus der Zeit, als er an der Amsterdamer Fotoakademie studierte.
12
Ich fühle ihn neben mir sitzen. Ich fühle ihn vor mir stehen. Ich fühle seinen warmen Atem in meinem Nacken – in kurzen Stößen, verursacht durch sein Kichern, denn er steht hinter mir und liest halblaut mit, was ich schreibe, wie bei jenem Mal, als ich mich an einen Verleger wandte, der mich ungerecht behandelt hatte. »›Sehr geehrter Bücherfritze‹ … das ist gut.«
Am deutlichsten fühle ich ihn in mir, als wäre ich eine schwangere Frau. Ich bekomme einen heftigen Tritt in meine Eingeweide, dann ein paar schwächere. Es scheint, als versuchte er sich ungestüm umzudrehen.
Im Frühjahr ‘94 kam er mit Mirjam nach Angoulème, wo ich einige Wochen zuvor die Arbeit an einer Reportage begonnen hatte. Tonio war fünf, fast sechs. Die Türen des TGV öffneten sich, und er sprang von der Trittstufe direkt in meine Arme. Ohne die Steinplatten des Bahnsteigs mit der Schuhspitze zu berühren, hing er plötzlich an mir, lachend, küssend. Die liebevolle Heftigkeit seines Griffs kann ich mir zu jedem gewünschten Zeitpunkt des Tages in Erinnerung rufen. Ich werde Tonio in meinem Fleisch spüren, solange ich lebende Nerven habe.
Fünf Jahre später, in Marsalès, hole ich ihn von einem Tischtennisturnier auf der Terrasse des Campingplatzes ab. Ich schaue eine Weile aus einigem Abstand zu, wie er sich in der einbrechenden Dämmerung mit seinem Schläger zur Wehr setzt. Auf die Handrücken hat er sich mit Tesafilm kleine Röhrchen geklebt, die mit einer gelben phosphoreszierenden Flüssigkeit gefüllt sind. Sie sollen den Gegner ablenken und verwirren. Bei einer raschen Bewegung des Handgelenks schreibt so ein Röhrchen eine Art leuchtendes chinesisches Schriftzeichen ins Dunkel. Es hilft nichts. Tonio verliert ein ums andere Mal. Nach dem letzten Satz schiebe ich ihn neckend vor mir her über den niedrigen Damm, dermitten durch den Badesee zu unserem Haus führt. Ich drücke mit den Fingerspitzen seitlich leicht an seinen Hals, dicht unter den Ohren. Die Haut glüht und ist feucht.
»Warmen Nacken hast du.«
» Laß das.« Mit dem Ellbogen macht er automatisch die abwehrenden Bewegungen, die zu seinem Alter (elf) gehören, aber er versucht nicht wirklich, meine Hand abzuschütteln. »Ts, ts, keinen einzigen Satz gewonnen. Diese Phosphordinger taugen nichts.«
Ich streichle mit dem Daumen aufwärts gegen den schwitzigen Haaransatz seines Entenbürzels. Die feuchte Wärme seines Nackens wird nie aus meinem Handballen verschwinden.
So hat Tonio Abdrücke aus allen seinen Lebensphasen in mir hinterlassen – seit er mir, direkt aus der Gebärmutter, buchstäblich in den Schoß geworfen wurde, bis zu jener letzten Umarmung in der Staalstraat, als ich vor Rührung vergaß, ihm den Fünfziger zuzustecken.
13
Mirjam kam, irgendwie künstlich aufgedreht, nach Hause und teilte mir fast fröhlich mit, sie und Josje hätten »einen schönen, ruhigen Platz für Tonio« gefunden. Die Papiere verzeichneten als Grabnummer: 1-376-B.
»Wenn du die Stelle siehst, wirst du auch zufrieden sein.«
»Ich glaube dir. Ich seh‘s am Freitag.«
Bevor ich mich über ihre
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