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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Frau sich bereits niedergelassen hatten. Josje kümmerte sich irgendwo drinnen um eine hemmungslos weinende Mirjam. Eigentlich gab es nichts im Haus außer dem nassen, prustenden Kummer von Tonios Mutter. Wir saßen etwas unbeholfen herum, »begriffsstutzig«.
    »Schön, der Goldregen«, sagte Frans. »Aber den Efeu würde ich an deiner Stelle zurückschneiden lassen. Der ist ja an manchen Stellen einen Meter dick. Schön für die Vögel, aber stell dir bloß mal vor, welches Gewicht an der Fassade hängt …«
    »Das ist jetzt nicht meine größte Sorge«, sagte ich. »Hier, unter dem Efeu und unter dem Goldregen, hat Tonio amDonnerstag noch eine Fotosession mit einem Mädchen gehabt … wir wissen nicht, wie sie heißt … Ich schneide vorerst nichts weg, was daran erinnert.«
    »Adri«, sagte Frans, »wenn es dich zu sehr schmerzt, jetzt davon zu erzählen, dann tu‘s nicht, aber … was ist gestern morgen eigentlich genau passiert?«
    »Ich weiß nicht viel mehr als das, was die Polizisten, die uns gestern früh die Nachricht überbrachten, erzählt haben. Die haben sich die nötigen Hintertürchen offengehalten. Der Autofahrer, der Tonio angefahren hat, wurde zu dem Zeitpunkt noch vernommen. Dieses Mädchen von dem Fotoshooting, von dem ich gerade gesprochen habe … Tonio erzählte mir vor ein paar Tagen, daß sie ihn für Samstagabend ins Paradiso eingeladen hatte … zu einem italienischen Abend, mit italienischen Tophits aus den achtziger Jahren, irgend so was. Ich vermute, daß Tonio so gegen halb fünf aus dem Paradiso kam. Er hat auf seinem Rad den Max Euweplein überquert und ist dann wahrscheinlich über die Fußgängerbrücke dort, beim Casino, hinuntergefahren … direkt auf die Stadhouderskade. Ich denke, er wollte durch den Vondelpark nach Hause. Nach Amsterdam-West. Nach De Baarsjes. Ich weiß nicht, ob er in vollem Tempo auf die Straße gesaust ist … jedenfalls wurde er da, ganz in der Nähe der Ampel, von einem Auto erfaßt. Die Ampel war nicht eingeschaltet oder blinkte nur, das wußten die Polizisten auch nicht genau.«
    Meinem jüngeren Bruder davon Bericht erstatten zu müssen kam fast einer Selbsterniedrigung gleich. Sein Sohn, sein einziges Kind, geboren, als er dreiundfünfzig war, hatte zwei Monate zuvor seinen ersten Geburtstag gefeiert. All die Jahre, die Tonio auf der Welt war, hatte Frans gezögert, Kinder zu bekommen. Ich hatte ihn immer spüren lassen, was für ein Segen ein Sohn für mich war. Er zweifelte trotzdem. Jetzt mußte ich ihm ungeschminkt beibringen, wie verletzlich ein Kind sein konnte,selbst wenn es über zwanzig war. Ich berichtete ihm von meiner Niederlage.
    »Und dieser Autofahrer … weiß man schon, ob er zu schnell fuhr?«
    »Nein, ich habe nur gehört, daß er nicht weitergefahren ist und daß er sofort mit seinem Handy die Polizei gerufen hat.«
    Mir fiel auf, daß die beiden anwesenden Frauen genau spürten, wann sie Mirjam in die Küche folgen mußten – nicht um ihr beim Füllen der Gläser zu helfen. »Es kann doch nicht sein, daß er nie mehr wiederkommt«, ertönte es aus dem offenen Fenster.
    Ich hatte den Eindruck, daß ich, vor allem ich, den fast sommerlichen Frühlingsabend mit läppischem Geplauder beschmutzte. Natürlich, es ging die meiste Zeit um Tonio und die beiden zurückliegenden Tage, doch es gelang mir nicht, zum Kern dessen vorzudringen, was wirklich passiert war. Ich ertappte mich sogar bei einigen bitteren Bemerkungen zu Dingen, die nichts mit dem Unfall zu tun hatten. Sie entschlüpften mir, als wollten sie völlig unabhängig bezeugen, daß das Leben auch ohne Tonio in allen Tonarten, mochten sie noch so vulgär klingen, ungestört weiterging.
9
     
    Wie es nun mal so ist: Man bringt den Besuch zur Tür, und bevor jeder seiner Wege geht, steht man noch eine Weile auf der Schwelle und stimmt sich gegenseitig zu – in Sachen Vergeudung eines Lebens, über die Unfaßlichkeit des Verlusts.
    »Daß das einfach so möglich ist«, sagt Josje noch einmal, und ihre Augen schimmern im Laternenlicht. »Einfach so auf der Straße totgefahren zu werden …«
    Als alle fort sind, gehe ich ein paar Schritte auf den Bürgersteig hinaus. Ich schaue hoch: ob der Himmel noch immer so ungerührt klar ist wie in der Nacht, als Tonio … DasNatriumlicht der Straßenlaternen nimmt mir die Sicht auf die Sterne.
    Mir wird bewußt, daß ich es von klein auf eher als etwas Weihevolles, als Mysterium betrachtet habe denn als großes Unglück: als Eltern ein

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