Tonio
einemmal erhob mein Gesprächspartner die Stimme, um Jim zuzurufen: »… dann hat er vielleicht einen Umweg gemacht, um Zigaretten zu holen.«
Ich hatte nicht richtig verstanden, was Jim in dem Moment gesagt hatte, aber ich vermutete, daß es um das Rätsel ging, warum Tonio an dem Ort war, an dem er angefahren wurde. Jemand anderer im Wohnzimmer sagte: »Falscher Ort, falsche Zeit.«
Zigaretten . Ich mischte mich absichtlich nicht in die Unterhaltung ein, denn dann hätte ich möglicherweise zu hören bekommen, daß Tonio rauchte – nicht nur »ab und zu eine qualmte, um in der Kneipe mitzuhalten«, wie er mir einmal gesagt hatte, sondern so stark, daß er nachts plötzlich keine Zigaretten mehr hatte und bereit war, für ein neues Päckchen einen großen Umweg zu machen.
Es konnte natürlich sein, daß Jim ihn, zum Beispiel telefonisch, gebeten hatte, unterwegs Zigaretten für ihn zu kaufen. Ich fragte nicht nach, denn ich wollte die Wahrheit nicht hören.
Um in Gottes Namen über etwas anderes zu sprechen, fragte ich Jim nach dem Polaroidmädchen. Ja, er hatte von Tonio etwas über ein Fotoshooting gehört, aber Genauereswußte er auch nicht. Einen Namen konnte er uns nicht nennen. Er hatte sie nie gesehen.
»Hattest du den Eindruck, daß Tonio öfter über ein bestimmtes Mädchen sprach … ich meine, auch ohne ihren Namen zu nennen?« fragte ich.
»Mädchen beschäftigten ihn in letzter Zeit sehr, ja«, sagte Jim ausweichend. »Er sprach oft davon. Ob er manche Dinge richtig mache und so.«
15
»… und er verfluchte sein Schicksal.« So hatte ich es als Junge unzählige Male in Büchern stehen sehen. Es hatte etwas Heimeliges, ganz nah am glühenden Kohleofen von dem Helden zu lesen, der, von finsteren Kräften bezwungen, die Faust ballte und sein Schicksal verfluchte.
Jetzt, da ich selbst weiß, wie es ist, sein Schicksal zu verfluchen, ist alle Heimeligkeit verschwunden. Ich beklage Tonios Schicksal. Ich verfluche meines.
KAPITEL II
Der Verrat
man muß noch eine grube graben für einen schmetterling
den augenblick eintauschen gegen vaters uhr –
Gerrit Kouwenaar, man muß
1
Mirjam nahm Tonios Handy überallhin mit. Es hatte beinahe etwas Zwanghaftes. Wenn sie es versehentlich im Badezimmer liegengelassen hatte, rannte sie in Panik zurück, um es zu holen.
»Er ruft wirklich nicht an«, sagte ich, als mir ihr Verhalten auf die Nerven zu fallen begann.
»Mir geht es um das Mädchen«, sagte Mirjam. »Ich habe das Gefühl, sie weiß noch von nichts. Niemand aus Tonios Umfeld kennt sie.«
»Vielleicht hätten wir die Todesanzeige doch besser gleich nach Pfingsten aufgeben sollen.«
»Nein, o nein.«
Als Mirjam einmal duschte, ließ sie das Handy im Schlafzimmer auf dem Bett liegen. Obwohl sie den Klingelton lauter gestellt hatte, verpaßte sie den Anruf. Jedenfalls war sie erst dran, als die Nachricht bereits auf der Mailbox angekündigt wurde. Der Anruf kam von einer Privatnummer, die mit »(keine Nummer)« bezeichnet war. Ich fand Mirjam auf der Bettkante sitzend, während sie mit angespannter Miene die Mailbox abhörte.
»Sie sagt ihren Namen nicht.« Mirjam gab mir das Telefon. »Aber das muß sie sein. Hör mal.«
»… Facebook probiert, aber deine Seite ist nicht aktiv. Ich wollte gern wissen, ob die Fotos was geworden sind. Wenn nicht, dann find ich das mieser für dich als für mich. Du hast die ganze Arbeit gehabt. Es war sowieso ein schöner Nachmittag. Schade wegen Samstag. Also, ich hoffe, ich höre bald von dir. Tschüs .«
Ich meinte einen ganz leichten englischen oder amerikanischen Akzent zu hören. Mirjam sah mich mit vom Weinen verzerrter Miene an. Ich gab ihr Tonios Handy zurück. »Die Stimme paßt auf jeden Fall zu ihrem Polaroidporträt«, sagte ich.
2
Ein solcher Verlust, der stieß einem zu. Das Vermissen folgte von selbst, ebenso die Trauer.
Dennoch war es nicht so, daß der Verlust willenlos machte und ein Maß an Kummer mit sich brachte, das man einfach hinzunehmen hatte, ohne eine eigene Form dafür suchen zu dürfen. So absurd es in der gegebenen Situation auch war, es bestanden immer noch Wahlmöglichkeiten. Sollten wir uns dem Schmerz hingeben oder uns, im Gegenteil, gegen ihn zur Wehr setzen? Solche Fragen stellten wir einander unaufhörlich.
»Hätte Tonio gewollt, daß wir an seinem Untergang zugrunde gehen?« (Ich zu Mirjam.)
»Wir können ihn nicht mehr fragen.«
»Angenommen, wir hätten ihn zu Lebzeiten gefragt … schon mal
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