Tonio
Fröhlichkeit ärgern konnte, fiel mir ein, daß sie jeden Moment wieder von abgrundtiefster Traurigkeit beiseite gedrückt werden konnte.
Het Parool von diesem Nachmittag hatte eine briefmarkengroße Meldung:
Radfahrer tot nach Zusammenstoß
Stadhouderskade
Zuid – Ein 21jähriger Radfahrer ist Sonntagnachmittag in einem Krankenhaus an den Folgen eines Verkehrsunfalls auf der Stadhouderskade gestorben. Er war in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag mit einem Personenwagen kollidiert. Der 23jährige Autofahrer mußte pusten, hatte aber nicht getrunken.
»Sieh dir das an«, sagte ich zu Mirjam, »die Geschichte unseres großartigen Jungen in wenigen Zeilen. Es gibt Literaturkritiker in den Niederlanden, die der Ansicht sind, ich sollte mir an solcher Kompaktheit ein Beispiel nehmen.«
In derselben Spalte Verschiedenes stand auch eine briefmarkengroße Meldung erfreulicheren Inhalts: In Amsterdam verbilligte sich ein neuer Führerschein um einen Zehner, von 46 auf 36 Euro.
14
Im Knick der Eckcouch saß niedergeschlagen Jim, noch bleicher, als wir es in den letzten Jahren bei ihm gewöhnt waren. Die Blässe seines Gesichts wurde von genauso dunklem Haar umrahmt, wie Tonio es hatte. Jim machte immer wieder unkontrollierte Bewegungen, als wolle er etwas sagen, könne die Worte jedoch nicht finden. Seine Mutter hatte neben ihm Platz genommen und rieb in einem fort ermutigend über seinen Rücken – eine härtere Handbewegung als Streicheln oder Kosen. Er ließ es zu.
Da saß Tonios Busenfreund. Sie kannten sich seit der Krippe und waren wie Brüder zueinander gewesen. Es hatte eine kurze Entfremdung gegeben, als sie auf verschiedene Schulen gingen (Jim kämpfte mit Lernproblemen, litt möglicherweise an Dyslexie). In dieser Zeit begegnete ich JimsMutter in der Van Baerlestraat, auf der Überführung über den Vondelpark. Im Vorbeigehen grüßten wir einander etwas unbehaglich: Unsere Söhne waren ja nicht mehr zusammen. Als der Abstand zwischen ihr und mir bereits mehrere Dutzend Meter betrug, drehte Jims Mutter sich plötzlich um und rief so etwas wie: »Das wird schon wieder mit den beiden. Sie sind füreinander bestimmt.«
»Ja, auf jeden Fall«, rief ich zurück. »Das ist nur was Vorübergehendes.«
Und tatsächlich, nicht viel später fanden sie wieder zueinander, die Busenbrüder. Seitdem hatte es keinen Bruch mehr in ihrer Freundschaft gegeben, eitel Sonnenschein allerdings auch nicht. Wenn Tonio sonntags abends zu uns kam und wir uns nach Jim und seiner chronischen Schlaflosigkeit erkundigten, schüttelte er bedrückt den Kopf und schaute zu Boden, egal, wie fröhlich er das Haus betreten hatte. Tonio sprach kaum darüber, aber man konnte ihm anmerken, daß er das Problem für ziemlich aussichtslos hielt. Weil wir Tonio nicht gern Trübsal blasen sahen in dem Stündchen, das wir ihn für uns hatten, erkundigten wir uns mit der Zeit nicht mehr danach. Allerdings ließ er ein paarmal durchblicken, daß er, wenn der Mietvertrag für die Wohnung in der Nepveu auslief, allein wohnen wollte oder in einer Gruppe in einem Studentenheim. (Er dachte an Weesperzijde.)
Ich saß mit Jims Vater auf der Couch. Es stellte sich heraus, daß er als Mitarbeiter eines medizinischen Dienstes entfernt mit dem Fall der ermordeten Polizistin zu tun gehabt hatte, über den ich jetzt ein Buch schreiben würde, wenn nicht … Ich hörte ihm mit mehr als normalem Interesse zu: Bei aller Diskretion, die er wahrte, erfuhr ich eine Menge Details fast aus erster Hand, wenn es auch für einen Roman war, der aufgrund der gegebenen Umstände zum Stillstand gekommen war und den wiederaufzugreifen ich wahrscheinlich nie mehr fertigbringen würde.
Trotzdem wurde meine Aufmerksamkeit durch Jim abgelenkt, der Mirjam von Tonio erzählte. Daß Tonio in letzter Zeit einen so selbstsicheren und tatkräftigen Eindruck gemacht habe und außerdem so glücklich wirkte.
»… ja, das hatte er alles selbst ausgetüftelt«, verstand ich. Jim sprach von den Wegen, über die Tonio seinen Master in Medientechnologie machen wollte, Dinge, die Tonio uns in der Woche zuvor ebenfalls anvertraut hatte. Jim unterstrich seine Sätze mit viel schweigendem Genicke, und ich sah seiner starren Miene an, daß er sich bemühte, die Tränen zu unterdrücken.
Auch als ich die Unterhaltung mit seinem Vater wiederaufzunehmen versuchte, lauschte ich Jim weiter mit mehr als einem halben Ohr. Vielleicht fiel meine nachlassende Aufmerksamkeit auf, denn mit
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