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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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vorsorglich.«
    »So wie ich ihn kenne …« sagte Mirjam. »Nein, ich glaube nicht, daß er gewollt hätte, daß wir daran zugrunde gehen. Er hätte lieber gesehen, daß wir am Leben bleiben und die Erinnerung an ihn wachhalten.«
    »Aber wir … was wollen wir? Durch seine Vernichtungselbst zugrunde gerichtet werden? Es hat etwas Tröstliches, zugegeben. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, dürfen wir vor die Hunde gehen. Er kaputt, wir kaputt. Vielleicht sind wir ihm das schuldig.«
    »Wenn ich mich ganz stark in ihn hineinversetze, Adri … nein, das hätte er nicht gewollt. Wir müssen weitermachen. Seinetwillen. In seinem Namen.«
    »Laß uns ihn erst mal würdig beerdigen. Dann können wir immer noch weitersehen … oder nicht länger weitersehen.«
3
     
    Wenn wir Tonios letzte Tage und Stunden minuziös rekonstruierten, bestand die Möglichkeit, früher oder später auf das Mädchen von dem Fotoshooting zu stoßen. Auch wenn wir keine Telefonnummer oder Adresse von ihr hatten, nicht einmal einen Namen, irgendwo würden wir auf ein Zeichen von ihr stoßen. Es gab sie, das war sicher.
    Aber … wollten wir das wirklich? Wenn wir sie aufspürten, hätten wir vielleicht entdeckt, daß so etwas wie eine Romanze im Entstehen begriffen war – eine, die zu mehr hätte führen können.
    »Freitag ist die Beerdigung«, sagte Mirjam am Mittwoch, »und wir haben noch immer keinen Kontakt zu dem Fotomädchen. Ich wünschte, sie würde noch mal anrufen.«
    »Lassen wir der Sache ihren Lauf«, sagte ich. »Wenn was war zwischen den beiden, dann meldet sie sich schon.«
    »Ich habe große Angst, daß sie noch gar nichts weiß. Vielleicht wartet sie auf einen Anruf von Tonio … oder auf eine Reaktion von ihm bei Facebook … und versteht nicht, was los ist.«
    »Wir haben alle verfügbaren Nummern angerufen«, sagte ich. »Niemand kennt sie. Sie wissen höchstens ganz entfernt etwas von einem Fotoshooting. Ein Datum hat niemand parat. Einen Namen schon gar nicht. Ach ja, Tonio und eineFotosession … er hat so viel fotografiert. Nein, wir müssen einfach abwarten.«
    Dabei dachte ich: Wir müssen wie der Blitz mit Tonios Handy zum Forensischen Institut – um den Anruf (»keine Nummer«) dieses namenlosen Mädchens untersuchen zu lassen.
    Und dann wieder der quälende Zweifel. Sollte ich sie wirklich suchen? Was hatte es für einen Sinn, Tonios letzte Tage zu rekonstruieren? Er war unwiderruflich aus dem Dasein verschwunden, das sich zur Rekonstruierung anbot.
    Nein, ich widmete mich besser dem Beantworten der Kondolenzpost. Ich hatte aus den Fotos (Tonio als Oscar Wilde), die ich beilegen wollte, einen Stapel gemacht und den mit dem Bild nach unten auf meinen Schreibtisch gelegt. So konnte ich sein Porträt in den Umschlag schieben, ohne ihm in die Augen blicken zu müssen, denn mit jedem Brief vergrößerte ich den Verrat an ihm.
    Trotz dieser Vorsorgemaßnahmen war Tonio unausweichlich im Arbeitszimmer präsent, in stets wechselnden Lebensphasen. »Adri, soll ich dir die Fotos reichen … dann geht‘s schneller.« »Du schreibst immer das gleiche, mit anderen Namen … warum?« »Adri, es wäre so viel effizienter, wenn du einen Computer mit einer Adreßdatei hättest. Ein Tastendruck, und heraus kommt eine Rolle mit selbstklebenden Etiketten. Du bist wirklich aus einem anderen Jahrhundert, nicht?«
    Es waren schöne, frühsommerliche Tage, die alle auf blendende Weise den Pfingstsonntag widerspiegelten. Ich saß an dem Schreibtisch, der der offenen Balkontür am nächsten stand, gegen die grelle Sonne durch die Markise geschützt.
    Manchmal kam Mirjam, um kurz bei mir zu weinen. Nein, wir mußten nicht alles wissen wollen: Sie war schon traurig genug, ihr Schmerz brauchte nicht durch noch mehr erstickende Details genährt zu werden. Am Freitag würden wir ihn beerdigen, vormittags, und am selben Tag würden dieTodesanzeigen in den Abendzeitungen erscheinen. Danach brauchten wir uns nur noch unserer Trauer hinzugeben, gemeinsam, in der Abgeschiedenheit unseres Hauses.
4
     
    Der Tag seiner Beerdigung war ein ebenso göttlicher, frühsommerlicher Tag wie der, an dem er starb.
    »Heute muß ich meinen Sohn beerdigen.« Ich formulierte diesen Satz immer wieder für mich selbst, während ich die banalen alltäglichen Handlungen vornahm: Zähneputzen, duschen, rasieren.
    Ich probierte Varianten aus: »Heute werde ich meinen Sohn beerdigen.« So lange, bis ich die mehr oder weniger ideale Formulierung im Kopf hatte. Ich befand

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