Tontauben
spärlich beleuchtete Rinne zwischen dunklen Hügeln. Sie hatte ein Lied gefunden, dessen Melodie ihr gefiel. Den Text verstand sie kaum, nur Satzteile, Wörter: Tom Paine, do me harm, shouting at this lovely girl.
Hast du schon gepackt?
Esther schüttelte den Kopf: Noch nicht.
Ihr Zug ging erst gegen Mittag, sie würde morgens noch genug Zeit haben.
Frank fuhr gemächlich, die Finger seiner linken Hand hielten das Lenkrad, während seine rechte Hand in ihrem Nacken lag und sie flüchtig kraulte.
Kannst du überhaupt fahren?, fragte sie. Du hast doch auch Wein getrunken.
Sie versuchte sich zu erinnern, wie viel sie getrunken hatten. Eine halbe Flasche Weißwein zur Vorspeise, eine Flasche Rotwein zur Hauptspeise, keinen Dessertwein, keinen Aperitif. Ging das? Oder war das bereits zu viel?
Sicher, sagte Frank. Undeutlich nuschelte er: Ich bin sehr, sehr nüchtern.
Er schwenkte auf die Mittellinie der Straße, legte beide Hände ans Lenkrad und ließ den Wagen sachte schlenkern.
Schon gut, sagte Esther. Ich glaube dir.
Erst ein einziges Auto war ihnen entgegengekommen. Menschen waren keine zu sehen. Sogar der Mond verbarg sich kurzzeitig hinter einer Wolke und ließ nichts als körnige Dunkelheit zurück. Dann tauchte er plötzlich wieder auf, gebogen wie eine Sense, das Meer wurde sichtbar, ein Stück vom Strand, heller als die mit Heidekraut bewachsenen Hügel. Im Dorf, durch das sie fuhren, gab es einen Minigolfplatz, eine Bäckerei, einen Supermarkt, ein Möbelgeschäft, zwei Restaurants und ein Hotel. In der Mitte des Kreisels lag ein riesenhafter schwarzer Anker.
Esther sah zu Frank hinüber und versuchte, ihn so wahrzunehmen, als sähe sie ihn zum ersten Mal. War er wirklich so großartig, wie sie dachte? Seine stumpfe, etwas zu breite Nase. Das winzige Doppelkinn, wenn er, wie jetzt, den Kopf leicht gesenkt hielt. Die hohe Stirn, halb verdeckt von den Locken. Sie fragte sich, ob er sich selbst die Haare schnitt. Es würde zu ihm passen, sich mit einer Schere in der Hand vor den Spiegel zu stellen und die Haare büschelweise abzuschneiden, sie von seinem Kopf rieseln zu lassen wie Nadeln von einer verdorrten Tanne. Sie konnte sich das vorstellen. Aber sie würde es nie sehen. Würde ihn nie beobachten, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Würde es nie selbstverständlich finden, dass sie bei ihm war oder er bei ihr. Es war ihr letzter Abend.
In den winzigen Pausen zwischen den Liedern konnte sie seinen Atem hören, manchmal pfiff er zu einem Lied oder summte mit. Als ein Schlager kam, stellte er das Radio ab.
Wusstest du, fragte er, dass Julio Iglesias früher Fußballer war?
Sie antwortete nicht. Starrte geradeaus.
Bei Real Madrid, erklärte Frank. Torwart. Außerdem hat er noch Jura studiert. Allerdings ohne Abschluss, glaube ich.
Er warf ihr einen Seitenblick zu und endlich schien er etwas zu bemerken.
So einen Kram behalte ich einfach, sagte er entschuldigend. Die Menge an Naturschwämmen, die jährlich hergestellt wird. Dass Konrad Adenauer eine Sojawurst erfand und sie patentieren ließ. Wie Tick, Trick und Track auf Dänisch heißen.
Nämlich?
Sie fragte es unwirsch, aber sie war ihm schon nicht mehr böse.
Rip, Rap und Rup, sagte er.
Sie lachten leise.
Und warum eine Sojawurst?, fragte Esther, und Frank sagte: Also, wie das kam, weiß ich auch nicht.
Seit sie aufgebrochen waren, war von Zeit zu Zeit in der Ferne ein Donner zu hören gewesen, dann noch einer, bereits näher. Jetzt schien sich das Gewitterzentrum genau über ihren Köpfen zu befinden. Esther konnte sehen, wie grelle Blitze den Himmel spalteten, und im nächsten Augenblick brach auch schon der Regen hervor, ein dichter Wasserschleier bedeckte in Sekundenschnelle die Windschutzscheibe, als seien sie unbemerkt ins Meer geraten. Frank fuhr sehr langsam, die Scheibenwischer schossen von rechts nach links, von links nach rechts, er beugte sich vor, um besser sehen zu können.
Hoppla, sagte er.
Es klang verwundert und ein wenig so, als sei der Regen ein ungebärdiges Kind, das es zu beruhigen gelte.
Sollten wir nicht lieber anhalten?, fragte Esther.
Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Wie eine Kamera konnte man die Perspektive wechseln – konnte alles, was hinter dem Regen lag, ausblenden und befand sich auf einmal inmitten eines flimmernden Raums ohne Konturen und Grenzen. Als ihnen auf der Gegenfahrbahn plötzlich ein Auto entgegenkam, machte Frank einen Schlenker nach rechts.
Und dann?, fragte
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