Tontauben
zum Essen gekommen waren, beinahe voll besetzt gewesen, jetzt begann es sich zu leeren, die Hälfte der Tische war bereits verlassen, abgeräumt und in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden, rasch und leise, als wollten die Kellner alles Geschehene auslöschen. Seit einiger Zeit sah einer der Kellner, ein mädchenhaft kleiner Mann mit rosiger, wie geschrubbt glänzender Haut, immer wieder zu ihnen hinüber.
Sollen wir gehen?, fragte Frank, und Esther schüttelte rasch den Kopf: Noch fünf Minuten.
Sie hätte nicht sagen können, worauf sie hoffte. Welche Enthüllungen sie all den zufälligen hinzufügen, welche Versprechen sie abgeben oder hören wollte. Die Vorstellung, etwas Wichtiges unwiderruflich versäumt zu haben, erschreckte sie.
Erzähl mir etwas von deiner Familie, bat sie. Leben deine Eltern noch?
Frank sah sie einen Augenblick überrascht an, dann fuhr er sich übers Kinn, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: Meine Eltern haben sich vor einigen Jahren scheiden lassen. Meine Mutter ist nach Genua gezogen, mein Vater ist vor – er hielt inne, rechnete nach –, vor drei Jahren gestorben. Alzheimer.
Er zuckte die Achseln und sagte knapp: War kein Spaß, das kann ich dir versichern.
Das Glas in der Hand betrachtete er sie, als unterzöge er sie einer Prüfung, bei der sich entscheiden würde, ob er weiterspräche oder nicht.
Anfangs, fuhr er fort, hat er nur kleine Dinge vergessen, Geburtstage, Feiertage, Namen, Buchtitel und so weiter. Kleinigkeiten … Aber das ist der Topf auf dem Herd auch, nicht wahr? Oder das offene Fenster, die offene Haustür. Was ich verwunderlich fand – Frank stellte das Glas ab und kratzte sich über der linken Augenbraue –, war, wie schnell der Alltag, ich meine, das ganz gewöhnliche, unspektakuläre Leben, zusammenbrechen kann. Was für kleine Versäumnisse dazu reichen. Einmal besuchte ich ihn nachmittags, und als ich die Tür öffnete, sah ich bereits im Flur die Überschwemmung. Er hatte Wasser in die Badewanne einlaufen lassen und es dann vergessen. Ein anderes Mal hat er dem Briefträger nicht öffnen wollen, weil er ihn für einen Einbrecher hielt. Und hast du schon mal eine Pizza aus dem Ofen geholt, nachdem sie zwei Stunden darin war?
Frank lachte leise, aber er sah nicht glücklich aus dabei.
Kleinigkeiten, wiederholte er. Am Ende hat er mich nicht mehr erkannt, zumindest nicht als seinen Sohn. Junger Mann, hat er mich immer genannt. Es war seltsam, vom eigenen Vater plötzlich wie ein Fremder behandelt zu werden. Er war höflicher, hatte weniger Ansprüche. Aber ich hätte ihn nicht mehr umarmen können oder so. Das hätte er wohl als unpassend empfunden.
Frank trommelte mit den Fingern einen kurzen Galopp auf den Tisch, dann sagte er: Manchmal habe ich gedacht, dass er mich bestrafen wollte: dafür, dass ich ihn in ein Pflegeheim steckte, dafür, dass ich ihn vielleicht nicht oft genug besuchte. Aber inzwischen bin ich überzeugt, dass das nicht der Fall war. Und weißt du auch, warum?
Er hatte sich über den Tisch gelehnt, und sie näherte ihr Gesicht dem seinen. Seine Lippen waren zusammengepresst, aber immer noch schön.
Sag es mir, flüsterte sie.
Weil er …, Frank stützte sein Kinn in die Hand und stieß ein Prusten aus. Nun, weil er dafür ganz einfach nicht raffiniert genug war. Oder anders gesagt: Er war dumm. Ein richtiger Idiot.
Er sah Esther so erwartungsvoll an, als hätte er ihr soeben eine Überraschung präsentiert. In gewisser Weise stimmte das.
Mir ist schon früh aufgefallen, sagte Frank und tippte mit einem Finger nervös gegen den Rand des Aschenbechers, dass er nicht so wahnsinnig helle war. Ich meine, man glaubt als Sohn ja gerne an die überragende Intelligenz des Vaters, schon aus Eitelkeit, aber in diesem Fall war das leider irgendwann nicht mehr möglich. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal dachte, dass er beschränkt sei. Im Denken, im Wissen, in seiner Fähigkeit zu abstrahieren, all das. Ich war sechzehn oder siebzehn, und ich habe mich ihm überlegen gefühlt. Ja, man könnte sagen, ich habe ihn verachtet. Ein komisches Gefühl.
Er lehnte sich zurück und streifte sie mit einem trotzigen Blick.
Wie ein Sieg, sagte er, bei dem man ahnt, dass er teuer erkauft ist.
Er holte eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an und warf das Feuerzeug barsch auf den Tisch. Es stieß gegen eine Tasse, der Kellner blickte fragend herüber und wandte sich sofort wieder ab.
Womöglich zu teuer,
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