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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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sagte Frank.
    Und deine Schwester?, fragte Esther.
    Sie musste sich anstrengen, um ihre Stimme normal klingen zu lassen. Sie war verblüfft über sein Geständnis. Es schien ihr auf seltsame Weise unecht, einstudiert wie ein Theatermonolog – die Rolle des wütenden Sohnes. Aber das alleine war nicht schlimm. Was sie erschreckte, was ihre Stimme heiser vor Ablehnung machte, war, dass er soeben – beiläufig, beinahe zufällig – sein wahres Wesen offenbart hatte: eine Grausamkeit, die sich hinter der Kulisse kultivierter Gelassenheit verbarg und sich überraschend Bahn gebrochen hatte.
    Ganz unerwartet kam das nicht. Wenn Esther ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie diese Grausamkeit schon vorher bei ihm bemerkt hatte. Vielleicht nicht Grausamkeit, korrigierte sie sich. Vielleicht eher eine moralische Gleichgültigkeit, die sie ebenso verwirrte wie erregte.
    Warte, hatte er gesagt. Bleib hier, während ich mit ihr telefoniere. Er hatte auf dem Rücken gelegen, beide Kissen unter dem Kopf, das Telefon mit der altmodischen schwarzen Drehscheibe auf der Brust. Sie hatte das Handtuch auf den Sessel geworfen und sich, nass wie sie war, auf ihn gesetzt. Und jetzt? – Sie würde gerne glauben, dass sie sich gesträubt hatte, aber das stimmte nicht. Zumindest hatte sie sich nicht lange gesträubt. Sie hatte sich vor und zurück gewiegt, und er hatte die Telefonnummer gewählt, musste zweimal neu beginnen. Hallo, Ara. Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, während sie sich auf die Knie hob und seinen Schwanz an die richtige Stelle führte wie ein blindes Tier an den Napf, er schloss die Augen, sie ließ sich sinken, er sprach vom Wetter, erfand einen Besuch im Inselmuseum, beschrieb die Kieferknochen des Buckelwals, die sie im Garten eines Restaurants besichtigt hatten. Er sagte, gut, gut, er sagte, ja, klar, sie konnte sehen, wie er die Sprechmuschel mit einer Hand verdeckte, während er zuhörte, wie er versuchte, ruhig zu atmen, sie bewegte sich schneller, er wiederholte, ist doch klar, seine Stimme wie gehetzt, Ara musste etwas merken, er sagte, na dann, und, bis morgen, und legte schnell auf. Feigling, sagte sie. Er schob das Telefon vom Bett, sie hörte, wie ein Stück des Plastiks absplitterte, mit einer einzigen Bewegung rollte er sich auf sie, ohne dass sie sich voneinander lösten. Ihr Kopf stieß gegen den Bettrand. Als sie sein Gesicht sah, lachte sie, und auch er lachte kurz und zog sie an sich. Nichts Schlimmes war geschehen, es würde keine Strafe geben, keine Sühne und Vergeltung. Niemand wusste, wo sie waren und was sie taten. Sie waren mächtig und glücklich und skrupellos wie Götter.
    Meine Schwester?, fragte Frank. Die ist verheiratet mit einem Maler, sie selbst ist Lehrerin. Wir haben nicht viel miteinander zu tun. Aber sie ist ganz nett.
    Nett, dachte Esther. Das war gar nichts. Das war sogar weniger als nichts. Ein Minusbetrag an Eigenschaften. Würde er sie auch so beschreiben? Sie stellte sich vor, wie sie ihn fragen würde: Wirst du mich auch einmal so beschreiben? Und er. Würde er antworten: Ich werde dich nie irgendwem beschreiben, verstehst du das nicht? Versprich mir, wollte sie gerne sagen, versprich mir –. Aber was? Sich an sie zu erinnern – sich anders an sie zu erinnern? Oder sie ein für alle Mal zu vergessen wie die letzten Momente vor einem Schock?
    Und du?, fragte Frank. Hast du Geschwister?
    Es war offensichtlich, dass er nicht aus Interesse fragte, sondern weil das die logische Fortsetzung ihres Gespräches war.
    Einzelkind, log sie.
    Und dann entschloss sie sich zu gähnen, legte die Hand vor den geöffneten Mund, musste, indem sie es vorgab, tatsächlich gähnen und winkte mit der anderen Hand dem Kellner, der mit einem Nicken auf sie zugeeilt kam.
    Es war merklich abgekühlt. Der Geruch des nahen Meeres lag in der Luft: an feuchten Sand erinnernd, an Salz und muffige Algen. Es hatte geregnet, sie umrundeten die Pfützen, die sich auf dem Parkplatz gebildet hatten und in denen sich die Lichterketten, die vielleicht schon für Weihnachten in den Bäumen hingen, spiegelten. Außer ihrem Jeep stand nur ein Kleinwagen auf dem Platz. Am Holzzaun, der den schmalen Vorgarten umlief, lehnten zwei Fahrräder.
    Im Wagen drehte Esther die Heizung auf und suchte im Radio nach Musik. Das Restaurant lag am nördlichsten Ende der Insel, in der Spitze des Stiefels, wie dieser Teil seiner Form wegen genannt wurde. Sie hatten eine längere Fahrt vor sich, die Straße war eine

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