Tontauben
Informationsblatt, das sie vom Nachttisch genommen hatte. Die Nummer der Rezeption stand in großen Ziffern darauf, außerdem die Notfallnummern: Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr. Die rechte Seite des gummierten Blattes wurde fast ausschließlich von Werbung eingenommen: Anzeigen für einen Blumenladen, einen Kürschner, ein Fischgeschäft und ein Reisebüro. Eine Notiz am Ende des Blattes bat um Ruhe beim nächtlichen Heimkommen. Im Interesse aller Besucher des Hotels danken wir Ihnen für Ihre Rücksichtnahme.
Er hat nach dir gefragt und lässt dich grüßen.
Wer?
Na, Martin.
Jean klang ungeduldig.
Hörst du noch zu – oder sollen wir besser später telefonieren?
Nein, sagte Esther. Also ja. Ich höre zu. Ich war gerade nur abgelenkt.
Sie winkte Frank zu, der aus dem Badezimmer kam, ein Handtuch um die Hüften, die Brille beschlagen vom Wasserdampf.
Grüß ihn auch, sagte Esther. Sie wartete, ob Jean noch etwas sagen würde, dann erklärte sie: Hier passiert nicht so viel.
Was machst du den ganzen Tag?, fragte Jean, und Esther sagte: So dies und das.
Frank hatte das Handtuch auf den Sessel geworfen und kramte in seinem Koffer nach Unterwäsche. Sein Rücken war schmal und mit kleinen und größeren Leberflecken gesprenkelt wie ein Wachtelei. Er drehte sich zu ihr um, lächelte und zog die Augenbrauen fragend hoch. Sie schüttelte den Kopf und wich seinem Blick aus. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er sich anzog.
Nämlich?
Ach.
Sie hob die Achseln und verharrte so einen Moment, bevor sie sie ausatmend wieder sinken ließ. Frank war inzwischen fertig angezogen, er setzte sich in den Sessel und blätterte in der Zeitschrift, die sie am Nachmittag an einem Kiosk gekauft hatte. Sie wünschte sich, dass er aufstehen und das Zimmer verlassen würde. Natürlich blieb er sitzen.
Ich schaue mich hier ein bisschen um, sagte sie, lese viel, esse gut.
Sie stand auf, trat, das Telefon in der einen, den Hörer in der anderen Hand, ans Fenster und schob mit dem Ellbogen den Vorhang zur Seite. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, im Fenster sah sie ihr eigenes Gesicht.
Wäre schön, wenn du hier wärst, sagte sie leise, und Jean sagte: Finde ich auch. Dann sagte er etwas auf Französisch, das sie nur zur Hälfte verstand. Etwas über Philip, den Papagei. Dass er sich beschwert habe über ihre Abwesenheit, dass er wütend sei oder traurig. Aus Protest wolle er nicht mehr fliegen, behauptete Jean. Dabei war er noch nie geflogen. Dass er überhaupt bei ihnen lebte, war diesem Umstand zu verdanken: Er war Jean von einem Züchter geschenkt worden, als sich herausstellte, dass ein Flügel missgestaltet war. Er solle ihn beruhigen, sagte Esther. Sie sei morgen Abend wieder da. Dann legten sie auf.
Ich möchte das nicht mehr, sagte sie, das Telefon noch immer in der Hand, den Blick weiterhin aufs Fenster gerichtet, hinter dem sie jetzt die Straße erkennen konnte, erhellt von den Scheinwerferkegeln der wenigen Autos.
Was?, fragte Frank.
Diese schizophrene Situation, sagte Esther.
Sie stellte das Telefon auf den Nachttisch und sah ihn schuldbewusst an.
Dass wir immer dabei sind, wenn der andere telefoniert.
Ich dachte, du stehst drauf, sagte Frank.
Nein. Sie schüttelte bekräftigend den Kopf. Du stehst darauf, nicht ich.
Sie bestellten Antipasti und aßen dazu dunkles, ofenwarmes Brot, von dem sie nicht die Finger lassen konnten, gefolgt von Fisch auf einem Bett aus Reis, einer Käseauswahl und hellgelber Zitronentarte unter einer Kruste aus Eischnee. Sie tranken Wein und sahen sich beim Anstoßen in die Augen, damit ihnen nichts Schlimmes zustoße.
Eine Henkersmahlzeit, sagte Frank.
Er umfasste Esthers Hand und presste sie zu einer Faust zusammen, die er gleich wieder öffnete, indem er seinen Daumen zwischen ihre Finger schob.
Du wirst mich vermissen.
Er klang selbstbewusst, gleichzeitig lächelte er, so dass unklar blieb, ob es ihm ernst war.
Gut möglich, sagte Esther langsam.
Sie würde nicht verwirrt sein. Würde nicht gegen Kommoden und Türen laufen, nicht die Zigarette falsch herum in den Mund stecken, nicht Fragen überhören und in Tagträumen versinken. Aber es war nicht auszuschließen, dass sie an ihn denken würde. Die Erinnerung an ihn würde zu einer Insel in ihrem Alltag werden, auf die sie sich manchmal – kurz vorm Einschlafen, zwischen zwei Terminen, während einer Zugfahrt – zurückziehen könnte und die langsam, aber unaufhaltsam versinken würde.
Das Restaurant war, als sie
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