Topas
hatten,
sahen sie in ihrem Sohn Emile ein stellvertretendes Leben für
die zahlreichen ermordeten Verwandten, ein besonderes Geschenk
Gottes zur Fortführung eines Familiennamens, von dem man schon
geglaubt hatte, er sei untergegangen, und wie viele Eltem, die
dieses Schicksal teilten, waren sie gegenüber ihrem Sohn
manchmal zu nachsichtig. Doch der junge Emile begriff, welche
Bedeutung seine Existenz hatte und schlug wenig Vorteil daraus. An
diesem Abend saßen Vater und Sohn gemeinsam über eine
Mathematikaufgabe, die der Junge noch nicht gemacht hatte, bis sie
zum Abendessen gerufen wurden.
Emile und Sophie waren
gesprächig, aber Marcel hing seinen Gedanken nach und
stocherte teilnahmslos in seinem Essen herum. Er war ganz in das
kriminalistische Puzzlespiel der ihm übertragenen Untersuchung
versunken.
Nach dem Krieg hatte
Marcel sechs Jahre lang rastlos und aufopfernd Kriegsverbrecher
gejagt, und nun stürzte er sich mit der gleichen Rachsucht auf
die neue Aufgabe.
Bis jetzt hatten sich
Oberst Galande und Guillon nicht verdächtig gemacht. Bei der
Sûreté waren neue Berichte vom ININ eingetroffen, aus
denen hervorging, daß bei den drei nichtfranzösischen
NATO-Vertretern auch keine Verdachtsmomente vorlagen. - Wiederum
deutete alles darauf hin, daß Henri Jarre, der erbitterte,
haßerfüllte Amerika-Gegner, die NATO-Dokumente
weitergeleitet
hatte.
»Marcel,
iß deine Kohlsuppe, sie wird kalt.«
Er kam der
Aufforderung geräuschvoll nach.
Aber wie ging Jarre
vor? Inspektor Steinberger galt als einer der besten
»Fassadenkletterer« der Sûreté. Er hatte
ein Wochenende abgewartet, an dem Jarre mit seiner Frau verreist
war, und persönlich die Wohnung durchsucht.
Bücher,
Pfeifenzubehör, Schränke, Mantelfutter,
Beleuchtungskörper, Toilette, Betten, Schreibtisch,
Heizkörper: nichts blieb ungeprüft. In jedem Zimmer
brachte er glänzend getarnte Mikrophone unter und zapfte die
Telefonleitung an.
Doch es kam nichts
dabei heraus. Henri Jarre wurde Tag und Nacht beschattet -
umsonst.
Trotzdem war Marcel
überzeugt, daß Jarre der Verräter war.
Er tunkte sein Brot in
die Suppe - und hielt plötzlich inne. Seine Augen bekamen
ihren merkwürdigen Ausdruck. »Natürlich«,
flüsterte er vor sich hin. »Ich war ein
Narr.«
Er schob seinen Stuhl
zurück, stand ohne ein Abschiedswort auf, küßte
Frau und Sohn und murmelte, er komme bald wieder. Dergleichen war
für seine Familie nichts Neues.
Hastig rief
Steinberger einen Kollegen an, mit dem er schon bei vielen
Gelegenheiten zusammengearbeitet hatte, Oberst Jasmin vom Sicherheitsdienst im
NATO-Hauptquartier, und wenige Minuten später raste er schon
hinaus nach Rambouillet, gut zwanzig Kilometer südlich von
Paris.
Jasmin erwartete ihn
in bequemer Wochenendkleidung auf der Terrasse seines
Häuschens, das unweit der NATO-Gebäude lag, und
begrüßte Steinberger mürrisch. Er paffte eine dicke
Zigarre und fragte: »Na, hinter wem ist die
Sûreté heute her?«
»Jarre«,
antwortete Marcel kurz.
»Weswegen?
Üble Nachrede?«
»Wir vermuten,
daß er den Sowjets NATO-Dokumente zugespielt
hat.«
Jasmin lachte
grunzend. »Bei Jarre ist jeder Verdacht angebracht. Ich habe
nie verstanden, wie ein so erbitterter Antiamerikaner sich als
NATO-Wirtschaftsreferent halten konnte.«
»Eine der von
Präsident La Croix erzwungenen Berufungen.«
»Ja, darin ist
unser Staatsoberhaupt groß. Nun erzählen Sie mal,
Steinberger, wie sieht die Sache aus?«
»Jarre bekommt
unzählige NATO-Unterlagen verschiedener Geheimhaltungsstufen
zu Gesicht.«
»Ja.«
»Er ist ein
bekannter, hochgestellter Beamter, er wird daher innerhalb und
außerhalb des NATO-Geländes weder verdächtigt noch
überwacht.«
Jasmin
nickte.
»Theoretisch«, fuhr
Steinberger fort, »könnte Jarre also mit einer
Aktentasche voller Geheimpapiere zum Tor
hinausfahren.«
»Aber nur
theoretisch«, betonte Jasmin. »Für jedes Dokument,
das mit einer Geheimhaltungsstufe versehen ist, muß er mit
seiner Unterschrift quittieren und es noch am gleichen Tag in die
Sicherheitstresore zurückschicken. Verläßt er das
NATO-Gelände, muß er die Dokumente sofort
zurückgeben.«
»Aber, mein
Bester, so überlegen Sie doch. Angenommen, Jarre kopiert die
Dokumente in seinem Büro, gibt die Originale zurück und
nimmt die Kopien mit?«
Oberst Jasmins Gesicht
erstarrte. Er griff zum Telefon und ließ sich die
Schlüssel zu dem Gebäude bringen, in dem Jarres Büro
untergebracht
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