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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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ich daran vorbei und heftete den Blick auf die ehemals weißen Regalbretter an der Wand. Dort stand eine kaputte Lampe, unter der ein vertrauter, rechteckiger Umriss hervorlugte.
    Ich griff danach, wischte Staub und Spinnweben ab und las den Titel: Gute Nacht, sagt der Mond . Das entlockte mir ein trauriges Lächeln. Nein, ich war nicht wegen der Bücher gekommen, das durfte ich nicht vergessen. Wenn ich so etwas mitbrachte statt Essen, würde Lucas ausrasten vor Wut, und dann würden wir uns wahrscheinlich wieder einmal über dieses ganze Thema streiten.
    Vielleicht war ich auch zu hart zu ihm. Er war ja nicht dumm, er dachte einfach nur praktisch. Ihn interessierte mehr, wie wir überleben sollten, und nicht wie er sich eine Fähigkeit aneignen konnte, die in seinen Augen vollkommen nutzlos war. Aber ich durfte nicht aufgeben, nur weil er auf stur schaltete. Wenn ich ihn dazu bringen konnte zu lesen, könnten wir es eventuell mehr Saumbewohnern beibringen, anderen jungen Leuten wie uns. Und vielleicht, vielleicht würde das ausreichen, um … etwas in Bewegung zu setzen. Natürlich konnte ich das nicht mit Sicherheit wissen, aber es musste einfach irgendetwas geben, das besser war als das nackte Überleben.
    Wild entschlossen schob ich mir das Buch unter den Arm, als ein leises Klappern mich erstarren ließ. Ich war nicht allein im Haus, irgendetwas bewegte sich dort draußen vor der offenen Schlafzimmertür.
    Ganz, ganz vorsichtig legte ich das Buch zurück aufs Regal, ohne auch nur ein Staubkorn aufzuwirbeln. Ich würde es später holen, falls ich das, was nun kam, überleben sollte.
    Lautlos zog ich mein Taschenmesser hervor und drehte mich um. In dem fahlen Licht, das aus dem Wohnzimmer herüberdrang, huschte ein Schatten vorbei, und leise Schritte tappten über den Boden. Ich klappte das Messer auf, wich ein Stück zurück und drückte mich gegen den Kleiderschrank. Mein Herz raste. Eine dunkle Gestalt erschien vor der Tür und ich hörte langsame, gepresste Atemzüge. Angespannt hielt ich die Luft an.
    Es war ein Reh.
    Der drückende Knoten in meinem Magen löste sich, doch es dauerte noch etwas, bis ich mich entspannte. Hier in den Ruinen waren wilde Tiere keine Seltenheit, dennoch war mir schleierhaft, warum ein Reh in einem Haus herumwandern sollte. Ich richtete mich auf und stieß den angehaltenen Atem aus, woraufhin das Tier den Kopf hochriss und in meine Richtung starrte, als könnte es mich nicht genau erkennen.
    Mein Magen knurrte, und einen Moment lang sah ich vor mir, wie ich mich an das Reh heranpirschte und ihm das Messer in den Hals rammte. Richtiges Fleisch war im Saum eine absolute Seltenheit. Selbst Ratten und Mäuse waren nahezu unerschwinglich, und ich hatte schon Leute bis aufs Blut um eine tote Taube kämpfen sehen. Zwar gab es im Saum ein paar streunende Hunde und Straßenkatzen, aber das waren bösartige, verwilderte Kreaturen. Wenn man keinen Biss riskieren wollte, von dem man sich wer weiß was holen konnte, ließ man sie besser in Ruhe. Außerdem waren die Wachen dazu angehalten, jedes streunende Tier zu erschießen, und kamen dieser Anweisung regelmäßig nach, sodass Fleisch zu einer extrem seltenen Ware wurde.
    Ein ganzes Reh, getrocknet und in Streifen geschnitten, würde mich und meine Leute einen Monat lang ernähren. Oder ich könnte Fleischstreifen gegen Essensmarken, Decken, neue Kleidung und alles Mögliche eintauschen, was mein Herz begehrte. Allein beim Gedanken daran knurrte mir erneut der Magen. Ich verlagerte das Gewicht auf ein Bein und machte mich zum Angriff bereit. Sobald ich mich rührte, würde das Reh wahrscheinlich die Flucht ergreifen, aber ich musste es zumindest versuchen.
    Doch dann sah das Tier mich direkt an und ich entdeckte die feinen, blutigen Rinnsale, die aus seinen Augen flossen und auf den Boden tropften. Mir gefror das Blut in den Adern. Kein Wunder, dass es so zutraulich war, dass es mir hierher gefolgt war und mich nun mit dem ausdruckslosen, starren Blick eines Raubtiers musterte. Es war von einem Verseuchten gebissen worden, und die Krankheit hatte ihm den Verstand geraubt.
    Ich holte tief Luft, versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen und die Panik zu unterdrücken. Das war übel. Das Reh blockierte die Tür, es gab also keine Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen, ohne einen Angriff zu riskieren. Die Augen des Tieres waren noch nicht vollständig weiß, was bedeutete, dass die Krankheit sich noch in einem frühen Stadium befand. Wenn ich mich

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