Tor der Daemmerung
mir plötzlich Schritte und ein Bandit spähte über das Geländer.
»Hey, du!«, brüllte er und zog eine Pistole aus dem Gürtel. »Dich habe ich doch in der Arena gesehen! Du bist die Schlampe, die das Feuer gelegt hat!«
Ein Schuss löste sich, dann flackerte Schmerz in meiner Brust auf und Blut spritzte. Als ich unterging, hörte ich Zekes Schrei.
Wut und Hunger erwachten zu neuem Leben. Ich hatte es satt, angeschossen, abgestochen, verbrannt, aufgeschlitzt, gepfählt und aus Fenstern geworfen zu werden. Also hechtete ich zurück an die Oberfläche, packte den Banditen am Gürtel und zog ihn vom Steg in die Tiefe. Platschend schlugen wir auf dem Wasser auf und sanken wie Steine Richtung Grund, obwohl der Mensch verzweifelt gegen meinen Griff ankämpfte. Er verkrampfte sich, sobald meine Reißzähne seine Haut durchschlugen, und als wir wieder Boden unter den Füßen hatten, rührte er sich gar nicht mehr.
Nachdem ich mich ausreichend genährt hatte, zögerte ich. Am liebsten hätte ich ihn den Fischen und Würmern überlassen. Aber da oben wartete Zeke auf mich, und er hatte gesehen, wie ich den Banditen unter Wasser zog.
Knurrend griff ich nach dem schlaffen Körper und schwamm Richtung Oberfläche. Gut möglich, dass er später an Unterkühlung und Blutverlust starb, aber wenigstens hatte ich ihn dann nicht ersaufen lassen.
Zeke war fassungslos, als ich neben ihm auftauchte und mir das Wasser aus den Ohren schüttelte. »Du lebst«, staunte er zähneklappernd. »Aber … der Schuss hat dich mitten in die Brust getroffen. Ich war da, ich habe es gesehen …«
»Es ist ziemlich schwierig, mich umzubringen«, murmelte ich. »Moment, so ist es richtig: Es ist ziemlich schwierig, mich ein zweites Mal umzubringen. Ich bin doch bereits tot, schon vergessen?«
Als ich den bewusstlosen Banditen unterhalb des Steges wieder auf die Laufplanke hievte, rollte sein Kopf zur Seite und machte so die blutenden Bisswunden sichtbar, die ich nicht versiegelt hatte. Zeke bemerkte es ebenfalls und verzog das Gesicht, aber er sagte nichts. Dafür waren seine Gedanken fast greifbar.
Wir schwammen noch ein ganzes Stück weiter durch die Straßen und erreichten schließlich die Schienen, die uns aus Jackals Territorium herausführen würden. Klatschnass und zitternd vor Kälte kletterte Zeke hinter mir das Gerüst hinauf und griff nach meiner Hand, damit ich ihn auf die Holzplanken ziehen konnte. Hier oben wehte ein eisiger Wind, und ich zuckte innerlich zusammen, als ich registrierte, wie elend er aussah: verletzt, durchnässt und halb erfroren. Haare und Kleidung klebten an seinem Körper. Trotzdem stand in seinen Augen eine eiserne Entschlossenheit, sein Blick war stur auf die Brücke vor uns gerichtet. Anders als ich sah er nicht zurück, doch ich drehte mich noch einmal um und betrachtete die brennende Stadt.
So viele Tote. So viele vergeudete Leben. Menschen, die ich gekannt, mit denen ich gesprochen hatte. Dorothy, Darren, Jeb … keinen von ihnen hatte ich retten können. Ich schluckte schwer und fuhr mir mit der Hand über die Augen. Seit wann bedeutete mir so etwas eigentlich so viel? Bevor Kanin mich verwandelt hatte, war der Tod ein alltäglicher Bestandteil meines Lebens gewesen. Eine Menge Leute waren gestorben, und das war völlig normal gewesen in meiner Welt. Nach dem Tod meiner alten Gang und nach Sticks Verrat hätte man annehmen sollen, dass ich mich nie wieder um andere sorgen würde. Und nun stand ich hier: Ein Vampir, der sich wünschte, er hätte eben jenen Menschen retten können, der ihm den größten Hass entgegengebracht hatte.
»Allison.« Hastig drehte ich mich zu Zeke um. Obwohl er im kalten Wind zitterte, stand er aufrecht am Rand der Schienen. »Die Sonne geht bald auf.« Mit dem Kinn deutete er über die Dächer hinweg. »Wir müssen so schnell wie möglich einen Unterschlupf für dich und die anderen finden. Komm jetzt.«
Ich nickte. Dann folgte ich ihm stumm über die Brücke, die uns aus der Innenstadt und den Ruinen von Old Chicago herausführte. Hinter uns überließen wir Jackals Territorium den Flammen.
»Hallo, alter Freund«, säuselte Sarren und schob sein vernarbtes Gesicht so nah an meines heran, dass ich den Wahnsinn in seinen schwarzen Augen sehen konnte. »Es tut mir leid, aber noch darfst du nicht schlafen. Wo bliebe denn da der Spaß? Ich habe bereits die ganze Nacht verplant.« Kichernd trat er zurück und beobachtete, wie ich reglos an den Ketten pendelte. Wenigstens
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