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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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ruhig spüren, wie sehr dich die Angelegenheit mitnimmt.«
    Nun sagte er: »Bleib so. Ab jetzt nicht mehr bewegen.« Er beließ es bei der letzten Einstellung, kam zu ihr auf den Diwan und setzte sich ihr schräg gegenüber. Sein Anzug war auberginefarben, ergänzt von einem dunklen Schlips, Krawattennadel, Einstecktuch und passenden Brillengläsern. Der Edelstein in seinem Ohr funkelte.
    Die Eleganz des Moderators vergrößerte den Kontrast zwischen ihnen noch. Ein leichter Schauer rann Yvonne über den Rücken, eine Spur Mitgefühl mit sich selbst. Unter der linken Hand verbarg sie eine Alraune, die die Gestalt eines Menschen hatte. Die Wurzel unterwarf den Teufel ihrem Willen – hoffte sie zumindest.
    »Wir befinden uns hier im gelben Salon von Carcassonne«, begann Beliar. »Dank der zahlreichen Hinweise, die wir erhalten haben, ist es uns gelungen, Ravennas vermisste Schwester ausfindig zu machen. Sie hat sich bereit erklärt, uns zu erzählen, was es mit ihrem rätselhaften Verschwinden auf sich hat.«
    Er drehte sich zu ihr. »Yvonne, meine Liebe. Sie halten sich schon eine ganze Weile im Schloss auf. Warum das Languedoc? Aus welchem Grund haben Sie sich hierher zurückgezogen und nicht einmal Ihrer Schwester mitgeteilt, wo Sie sind? Wussten Sie nicht, welche Sorgen sich Ravenna machen würde?«
    »Ich … äh … im Grunde genommen weiß ich selbst nicht, warum ich das getan habe.« Siezögerte, so wie sie es gemeinsam besprochen hatten. »Da war so ein Bedürfnis in mir. Der Wunsch nach Ruhe. Nach Frieden.« An dieser Stelle sah das Drehbuch vor, dass sie den Kopf hob und ihren Gesprächspartner mit einem klaren Blick ins Auge fasste. Plötzlich fiel es ihr schwer, ein zufriedenes Lächeln zu unterdrücken.
    »Wissen Sie, ich bin eine Hexe. Ich meine – von Geburt an. Aber meine Entwicklung verlief anders, als man sich das heute vielleicht vorstellt. Ich hatte keine Möglichkeit, meine Gabe zu entfalten. Das war damals unerwünscht. Mein eigener Zirkel musste sich im Verborgenen treffen. Als wären wir gefährliche Spinner, nur weil wir uns mit Kartenlegen, Astrologie und Orakelzauber beschäftigten.«
    »Unfassbar.« Mit gespielter Betroffenheit schüttelte Beliar den Kopf. »Nein, tut mir leid, das begreife ich nicht. Wollen Sie damit sagen, dass Ihr Talent nicht anerkannt wurde?«
    »Ja«, hauchte Yvonne. »Genau das will ich damit sagen. Meine Gabe wurde nicht respektiert. Ich wurde nicht respektiert. Als Person, als Mensch. Und als Hexe.«
    Beliar ließ eine Stille von mehreren Sekunden entstehen, während die Kamera weiterlief und das Feuer knackte. »Das muss sehr schwer gewesen sein«, stellte er fest. »Für ein Mädchen mit Ihren Fähigkeiten.«
    Hier war ein kleines Lächeln angebracht, schüchtern, aber tapfer. Plötzlich wusste Yvonne wieder, wie es sich angefühlt hatte. Als sie antwortete, musste sie nicht einmal lügen.
    »O ja, das war es. Es war wirklich hart. Ich war anfangs sehr allein. Aber ich hatte Glück, denn da war meine Großmutter Mémé. Und meine Schwester. Es sind ganz wunderbare Menschen. Oder waren es – meine Großmutter ist tot. Sie beide, ganz besonders aber Ravenna, halfen mir, mit meiner Gabe umzugehen.«
    »Glück? Haben Sie wirklich gesagt, es sei Glück, eine Schwester wie Ravenna zu haben?«
    Beliar gelang genau die richtige Mischung aus Zweifel, Ironie und einem Hauch Emotion. Yvonne fröstelte, trotz der Hitze des Kamins. Wenn Ravenna das jetzt sehen könnte, dachte sie. Dann würde sie ihre Meinung vielleicht ändern. Dann käme sie zurück zu mir.
    »Ja, es ist ein großes Glück. Ravenna ist meist sehr verständnisvoll. Und ehrlich. Aufrichtigkeit spielt für sie eine große Rolle.« Sie blickte in die Kamera. »Als ich klein war, war sie immer für mich da. Wir sind auf dem Land aufgewachsen, auf dem Weingut unserer Eltern. Wir lebten sehr zurückgezogen. Irgendwie außerhalb der Zeit. Da wird man nicht wie ein normaler Teenager groß. Ich würde sogar sagen, wir waren ziemlich isoliert. Ravenna verbrachte ihre Freizeit mit Ausreiten. Und ich mit Hexerei.«
    »Trotzdem haben Sie sich von Ihrer Schwester abgewendet.«
    Das war der erste Paukenschlag. Der Tusch verhallte nur langsam. Yvonne nutzte diesen Augenblick, um eine aufrechte und unerschütterliche Haltung einzunehmen.
    »Ja, das habe ich«, gestand sie leise. »Es ist eine Entwicklung, verstehen Sie? Wenn man älter wird, ergeben sich Meinungsverschiedenheiten. Missverständnisse. Man schlägt

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