Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Verwunderung und Neid. »Ritter am Hof des Königs – damit hätte nun wirklich niemand gerechnet. Und Begleiter einer bildschönen Hexe, die dich offensichtlich weit über die Grenzen des gesunden Menschenverstands hinaus liebt. Sonst wäre sie wohl kaum ins Torhaus zurückgerannt.«
Der Schreck kühlte das Blut in Lucians Adern um etliche Grade ab. »Du bist zurückgelaufen? Zurück ins Schloss? Zu Beliar, Velasco und zu … zu allem anderen?«, wandte er sich an Ravenna. »Hast du den Verstand verloren? Das gehört zu den Dingen, die ich dir in Zukunft verbiete.«
»Ach ja? Und was wäre dann aus deinem Schwert geworden?«, fauchte seine Hexe. »Dein Vater würde vermutlich gerade darauf herumtrampeln.«
Diego lachte. »Nun hör sich das einer an! Du bist ein Glückspilz, Lucian.«
Lucian verzog das Gesicht. »Es fühlt sich im Augenblick nicht danach an«, murmelte er. Erschöpft blieb er stehen und zog die Decke von seinen Schultern. »Kannst du das aufschneiden?«, bat er und drehte dem Freund den Rücken zu.
Die Schmerzen in der festgebundenen Hand waren nicht länger auszuhalten. Diego fluchte, dann zog er sofort den Dolch. Als die Fesseln zu Boden fielen, ging Lucian beinah in die Knie. Das Blut strömte zurück in die Finger und machte alles noch schlimmer. Wie ein Bleigewicht baumelte der geschundene Arm herab. Er biss die Zähne zusammen und streifte den verschmutzten Verband ab. Das Loch, das Velascos Dolch in seiner Hand hinterlassen hatte, sah übel aus. Die Wundränder waren entzündet. Die beiden äußeren Finger standen in einem seltsamen Winkel ab. Sie waren blau und unförmig geschwollen.
»O Gott!«, stöhnte Ravenna. »Wann ist das denn passiert? Hat Velasco dir das angetan?«
»Hast du sein Banner nicht gesehen?«, fragte Lucian. Er achtete darauf, dass seine Stimme ruhiger klang, als er sich fühlte. »Eine Aaskrähe, die den Ring des Königs im Schnabel hält.« Langsam drehte er den Handrücken nach oben. »Mein Vater wollte mir diesen Ring unter allen Umständen abnehmen. Als ich mich weigerte, ging er nicht gerade zimperlich vor. Im Grunde darf ich mich glücklich schätzen, dass die Finger überhaupt noch da sind. Allerdings werde ich dir in der nächsten Zeit kaum beistehen können: mit geborstenem Schwert und einer verunstalteten Hand.«
Seine Hexe starrte ihn aus großen Augen an. Dann streifte sie langsam den Ärmel zurück und entblößte das linke Handgelenk. An dieser Stelle hatte sie den Hexenreif getragen – das Siegel der Torhüterin. Jetzt war dort kein Schmuck mehr zu sehen.
»Yvonne hat den Ring«, gestand sie und schluckte. »Sie hat ihn mir weggenommen, während ich schlief. Als die Zofen mich dann in dieses dämliche Kostüm zwängten, habe ich es gemerkt. Aber es war schon zu spät. Ich werde dir umgekehrt auch keine große Hilfe sein, fürchte ich.«
Lucian nickte. »Eine Wette auf Leben und Tod. Darum geht es jetzt also. Das ist allerdings etwas anderes als eine Quizshow.«
Ravenna nickte. »Ich weiß«, flüsterte sie.
»Ihr beide seid unsere letzte Hoffnung«, warf Diego ein. »Ihr könnt etwas gegen den Hexer von Carcassonne unternehmen, während wir dazu verdammt sind, hier auszuharren und Velascos Launen zu ertragen. Mal lässt er uns tanzen und dann hängt er wieder ein paar von uns armen Schweinen auf. Möglicherweise seid ihr die Einzigen, die uns vom Fluch des Hexers befreien könnt. Denkt immer daran!«
Sie waren in einem spitzen Winkel zwischen einer Häuserzeile und einem Gatter angelangt. In dem Gehege tummelten sich Hühner und ein paar magere Ziegen. Unter dem Vordach hing eine Reihe von Fellen, die zum Trocknen aufgespannt waren. Lucian erkannte Schneefüchse, Bären und einen schwarzgrauen Wolfspelz, der ihm riesig erschien.
»Kommt«, mahnte Diego. »Wir müssen uns beeilen.« Er öffnete das Gatter, ging zur Mauer und entriegelte eine kleine Pforte. Er sah sich rasch mit einem wachsamen Blick um. Dann erst ließ er sie hindurchgehen.
Ravenna keuchte. Vor ihnen lag eine blendende Schneefläche, gesäumt von zwei mächtigen Mauern. Allein der Zwinger von Carcassonne war mehr als dreißig Schritte breit. Selbst zu Pferd brauchte man fast eine Stunde für einen Rundgang durch die ganze Anlage. Mehr als fünfzig Wachtürme ragten in regelmäßigen Abständen in den Winterhimmel.
»Geht nach Süden«, wies Diego sie an. »Etwa zweihundert Schritt von hier liegt eine weitere Pforte. Sie führt direkt hinunter zum Fluss. Ein altes
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