Tore der Zeit: Roman (German Edition)
berechnende, machtbewusste Aufsteigerin.
»Mémé würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie uns jetzt hören könnte«, murmelte sie. »Zwei Schwestern, beides Hexen, die sich aus Eifersucht die Augen auskratzen. Das hat Beliar wirklich prima hingekriegt. Säe Neid und Zwietracht, dann herrsche! Oder so ähnlich. Dabei hast du nicht den geringsten Grund, mich zu beneiden. Hättest du die Finger von schwarzer Magie gelassen, dann hätten dich die Sieben mit Freude in ihren Zirkel aufgenommen. Dann wärst du jetzt eine Meisterin des Feuers, statt dich an diesem armseligen Zauberstab festzuklammern. Und wenn du die Finger von Lucian gelassen hättest, wäre ich noch immer deine Freundin. So aber musst du leider zuschauen, wie die Speicherkarte verbrennt.«
Sie zog den Chip hervor und warf ihn ins Feuer. Flammen züngelten auf, und sie erwartete, dass das Plastikgehäuse zu schmelzen begann. Stattdessen geschah etwas Merkwürdiges: Das Feuer, das eben noch aufgelodert und geflackert hatte, stand plötzlich still. Jodok fror im Hintergrund zu einem Standbild. Er war damit beschäftigt gewesen, die Klinge auf einer fußbetriebenen, rotierenden Scheibe zu schleifen, doch das schabende Geräusch war verstummt. Funken sprühten in einem orangeroten Fächer unter dem Stahl hervor, fielen aber nie zu Boden. Der Schmied verharrte, über den Schleifstein gebeugt, während von einem angeblichen Drachenzahn weit und breit keine Spur zu sehen war.
»Wie hast du das gemacht?«, stieß Ravenna hervor.
Yvonne wedelte vielsagend mit dem Stab. »Mit diesem armseligen Ding hier«, zischte sie. Sie trat zur Esse und fischte die Speicherkarte ohne einen Wimperschlag mitten aus der Glut.
»Du solltest den Mund nicht so weit aufreißen, wenn es um schwarze Magie geht«, meinte sie. »Ich habe Vanessas Talkshow gesehen, Ravenna. Und ich wette, auf diesem Band gibt es noch mehr Beweise für Lucians düstere Gabe. Natürlich möchtest du die Aufnahmen gerne vernichten – das glaube ich dir aufs Wort. Aber du solltest dich besser an die Schwarzkunst gewöhnen. Ich glaube nämlich kaum, dass du die letzte Runde überstehst, ohne wenigstens ein bisschen von all den Möglichkeiten zu begreifen, die die schwarze Magie dir bietet.«
Sie schwenkte die Speicherkarte zwischen zwei Fingern, als wolle sie die anhaftende Asche abschütteln.
»Glywannier! « , befahl Ravenna und streckte die Hand aus. Sofort fing der Chip Feuer. Yvonne schrie auf und ließ die Karte fallen.
Hastig ging Ravenna auf die Knie und suchte den Umkreis der Esse ab. Ihre Finger huschten über unzählige Körnchen aus erkaltetem Stahl. Es stank nach verschmortem Kunststoff. Als sie die Karte fand, griff auch Yvonne danach, wegen des runden Bauchs etwas schwerfälliger als sie. Ravenna packte sie am Handgelenk. Ihr war in diesem Augenblick alles egal – sie wollte nur verhindern, dass eines Tages Tausende von Zuschauern sahen, wie Lucian sie auf dem regnerischen Abhang verließ.
»Ardor magyca!«, schrie Yvonne und schlug ihr den magischen Stab über die Schulter.
Der Schmerz ließ Ravenna aufschreien: wie kochendes Öl, das über ihren Arm gegossen wurde. Selbst wenn es eine Illusion war – sie zuckte zurück, allerdings ohne Yvonnes Handgelenk loszulassen. Im Grunde genommen hatte sie nie daran geglaubt, dass sie und ihre Schwester zu verschieden waren. Im Gegenteil: Ihre Gaben waren miteinander verwandt. Deshalb kamen sie einander ständig in die Quere. Das Feuer lag ihnen beiden im Blut.
In hohem Bogen warf sie die Speicherkarte auf die Kohlen.
»Fyr – bærnanier!« , rief sie, und die Flammen begannen wilder zu flackern als zuvor, emporgesogen vom Sturm, der in der Öffnung des Turms heulte. Plötzlich ertönten auch die Schleifgeräusche wieder. Funken sprühten über Jodoks Lederschürze. Die Diskokugel drehte sich schneller und warf irrwitzige Bilder zurück – Hexenzorn und einen magischen Zweikampf in der alten Schmiede. Beliar konnte sich wirklich nicht beklagen.
Hastig versuchte Yvonne sich an ihr vorbeizudrängen. Sie wollte zur Esse gelangen, um die Reste des Speicherchips zu retten. Aber die Glut war zu heiß. In ohnmächtiger Wut musste sie mitansehen, wie das Plastikkärtchen mit allen Beweisen, Tränen und Geständnissen verschmorte.
Entschlossen warf sie den Kopf zurück. Ihre Haare wurden von der aufsteigenden Hitze erfasst und flossen knisternd um ihre Schultern. Ihre Lippen murmelten lautlose Worte, die keinen Sinn ergaben. Worte, die von hinten
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