Tore der Zeit: Roman (German Edition)
schwer an. Das Fieber war jedoch gesunken, an der Hand trug er einen sauberen Verband. Ferran de Barca hatte Wort gehalten und ihnen das Gastrecht gewährt – für eine Nacht. Nun ließ Lucian den Blick durch den Raum wandern und versuchte abzuschätzen, wie ihre Chancen im hellen Tageslicht standen.
Im Augenblick herrschte gespannte Ruhe. Die Soldaten schürten das Feuer, bereiteten das Frühstück zu oder holten Waschwasser aus dem See. Männer und Frauen mit Langbogen hatten sich auf dem Anwesen postiert. Neben der Tür stand eine Schildwache. Wegen der umherziehenden Banden, wegen Velasco oder wegen des Königs – der Graf tat gut daran, sich zu schützen. Denn Ferran de Barca war ein Rebell. Nach dem Tod seiner Tochter hatte er sich gegen Constantin aufgelehnt. Sein Beispiel hatte zahlreiche weitere Adelige zum Eidbruch bewegt, bis sich der Aufstand zu einem Flächenbrand ausgeweitet hatte.
Lucian rieb sich über das Gesicht, aufgewühlt von den zusätzlichen Schwierigkeiten. Er war in Beziehungen zu allen verfeindeten Parteien verstrickt: durch Blutsbande, eine Fehde, einen Mord und einen Eid. Er hatte keine Ahnung, was sie tun sollten. Sie hatten keine Grundlage für Verhandlungen, nichts, um sich aus dieser misslichen Lage freizukaufen – dabei lag das Ziel ihrer Reise hinter dem nächsten Hügel.
Der Pass zum Montmago stieg unmittelbar hinter der Schmiede an. Es ging lediglich noch ein Stück die Straße hinauf, durch einen Wald und dann über einen Bergsattel. Dorthin wollte er Ravenna führen: zum höchsten Gipfel der Region. Auf den einzigen Berg, auf dem es ein Haupttor gab. Oder gegeben hatte. Nun würden sie nie herausfinden, wie es um das Portal bestellt war.
Er musste nur den Blick auf die Leibgarde des Grafen werfen, um zu erkennen, dass das Tor in unerreichbare Ferne gerückt war. Es waren fast ausschließlich Magier oder Hexen – Krieger mit einer Gabe. Sie trugen zusätzlich zu den Klingen bläuliche Kristallstäbe mit runden Spitzen am Gürtel. Der magische Schock reichte aus, um einen Gegner zu betäuben und für eine Weile außer Gefecht zu setzen.
Als die Russen die Stühle zurückschoben, streckte Lucian die Hand aus und berührte Ravennas Gesicht. Sie regte sich und schlug die Augen auf. Erst schien sie nicht zu wissen, wo sie war. Dann lächelte sie. »Lucian«, flüsterte sie, die Stimme heiser von Wind und Regen. Schließlich glitt ihr Blick an ihm vorbei, und sie runzelte die Stirn. »Muss das denn wirklich sein?«, murmelte sie.
Lucian drehte sich um. Der Filmemacher Thierry hockte auf einem Stuhl am Ofen. Er wirkte völlig erledigt, mit dunklen Ringen unter den Augen und wirr abstehendem Haar. Sein Tontechniker lag neben dem Ofen und schlief wie tot. Unbeirrbar hielt Thierry jedoch die Kamera auf dem Schoß. Das rote Aufnahmelicht glühte.
»Schaltet das aus!«, raunte Lucian. Hastig bedeutete er dem Filmemacher, das Gerät wegzulegen. Ganz sicher würden weder Vadym noch der Graf Aufnahmen von dieser Zusammenkunft dulden. Thierry schien ihn zu verstehen, denn er deckte die Hand über das Kontrolllämpchen, ließ die Kamera aber eingeschaltet. Nun sah es aus, als hielte er das Ding rein zufällig auf dem Schoß.
»Scheint so, als würden wir bald aufbrechen«, gähnte Ravenna. Sie streckte sich und reichte Lucian das Schwert. »Hier bitte. Jodok sagte, es trägt jetzt den Namen Cor. Keine Ahnung, was er damit meint. Ein Schwert ist doch kein Haustier.«
Bestürzt griff Lucian nach der schwarzen Lederscheide. Die Tatsache, dass Jodok dem Schwert einen Namen gegeben hatte, ließ ihn erschaudern. Es gab nur sehr wenige Klingen, die einen Namen trugen, und mit allen hatte es eine seltsame Bewandtnis – was meist ziemlich unangenehm für den Schwertträger war.
»Was ist?«, fragte Ravenna. Sie hatte ihn beobachtet. »Was ist los?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist nur … Schwerter mit Namen. Das gefällt mir nicht.«
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, denn er fürchtete, dass er kaum weniger unrasiert und ungekämmt aussah als der Kameramann.
Ravenna stand auf und kam zu ihm. »Wie geht es deiner Hand?«
Vorsichtig wickelte Lucian den Verband ab und untersuchte die Wunde. Er konnte die Hand wieder benutzen. Zwar waren die Finger noch steif, und es tat weh, wenn er die Faust ballte. Aber das Schlimmste war überstanden. Der Wundarzt des Grafen hatte sich als Magier entpuppt – ein fähiger Hexer mit einer Heilergabe.
»Es wird schon gehen«, murmelte
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