Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Ghost das Letzte ab, um den Hexer zu überholen. Der weiße Körper des Tieres streckte sich unter ihm, Mähnenhaar flatterte über seine Hand.
Cezlav hatte sein Aufholen bemerkt. Der russische Magier ritt ihm schräg entgegen, Mordlust in den Augen, das große Schwert unter dem Knie. Offenbar hatte er sich zu Velascos Leibwächter ernannt. Lucian fluchte und trieb Ghost noch härter an, in dem Versuch, rechtzeitig an Cezlav vorbeizukommen.
Zehn Meter noch, sieben, dann vier … da griff der Russe in seinen Gürtel. Lucian ließ die Zügel los und ballte die Hände. Er sammelte seine Kraft, obwohl er wusste, dass es ihn jegliche Ehre und jede Freundschaft in dieser Welt kosten würde, wenn er seine Gabe einsetzte. Das schwarze Talent eines Hexers. Aber er hatte keine andere Wahl.
In diesem Augenblick schrie Ravenna auf. Plötzlich war es, als ritte man gegen eine Wand. Ghost sackte unter ihm weg, der Boden rauschte ihm entgegen. Gleichzeitig durchzuckte ihn ein wahnsinniger Schmerz, wie ein Lanzenstoß, der mitten durch die Wirbelsäule ging. Er bäumte sich im Sattel auf. Reiter und Rösser wälzten sich ringsum am Boden, auch Ghost stürzte – aber Lucian brachte diesen Gedanken nicht mehr zu Ende.
Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft, und er überschlug sich ein paarmal, rollte den Hang hinab durchs Laub, während der Schmerz in ihm tobte – grelle Wogen, die durch seinen Körper pochten. Und aus Tag wurde Nacht.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden. Sein Pferd stand in der Nähe, dreckig, zitternd, mit schaumigen Schweißflocken auf Schultern und Flanken. Ein Zügel war abgerissen, eine Schramme über Ghosts Vorderbein blutete. Stimmen erfüllten den Wald, aber es war kein Kampfgeschrei mehr, kein Kriegslärm.
Seine Freunde waren zu Fuß im Gelände unterwegs, sammelten Waffen ein und untersuchten die Toten und Verwundeten. Von den gegnerischen Reitern war nichts mehr zu sehen. Ächzend rollte sich Lucian auf die Seite, zog den Ellenbogen unter den Körper. Er war überrascht, dass er das fertigbrachte. Er hatte angenommen, der Lanzenstoß hätte ihm das Rückgrat zertrennt, ihn zum Sterben verurteilt wie so viele Männer an diesem Tag. Aber er konnte sich bewegen, konnte sogar den Arm nach hinten strecken und die Stelle dicht über dem Gürtel betasten.
Da war nichts, weder klebriges Blut noch scharfkantig aufgeplatzte Kettenglieder. Er brachte die Hand wieder nach vorn und starrte auf seine Finger. Ihm war übel, und die grauen Buchenstämme drehten sich um ihn. Aber als er es schließlich versuchte, konnte er sich aufsetzen.
Ein zweites Pferd stand hinter Ghost, einige Schritte entfernt über ihm am Hang. Neben dem Rappen lag eine Gestalt auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. Der Gestürzte hatte die Kappe verloren. Sie war ein Stück zur Seite gerollt und entblößte eine Stelle auf dem Hinterkopf, an der die Haare dünner wurden.
Der Rappe legte drohend die Ohren an, als Lucian sich torkelnd aufrichtete. Ein großes Schwert, eines von der Sorte, die man mit beiden Händen führte, hing unter dem Sattelblatt. Das schwarze Pferd wich zurück, als er den Hang hinaufkroch und neben dem russischen Magier zu Boden sank. Mit zitternder Hand packte er Cezlav an der Schulter und drehte ihn um. Ein Käfer krabbelte über das Gesicht des Russen. Die trüben Augen starrten an ihm vorbei. Aus dem Mund tropfte ein zäher Faden Blut.
Lucian hatte diesen Anblick erwartet, hatte die verdrehte Haltung des Magiers gesehen. Trotzdem war es ein Schock. Hastig zerrte er an den Kleidern, schob die Hand unter den elegant gewickelten Kragen und suchte nach Lebenszeichen – vergeblich. Als er Cezlav noch weiter herumdrehte, fiel ihm der große Blutfleck auf. Die Stelle hatte fast dieselbe Farbe wie die Schärpe. Plötzlich erinnerte er sich wieder an den Knall, spürte das Pfeifen im Trommelfell.
Er betastete die Bauchbinde. Der Revolver steckte noch an Ort und Stelle. Da wurde ihm klar, was geschehen war: Als Cezlav stürzte, hatte sich offenbar ein Schuss gelöst. Die Kugel war dem Magier aus nächster Nähe in den Körper gedrungen, hatte lebenswichtige Organe zerfetzt. Zuletzt war Cezlav an seiner eigenen Dummheit gestorben.
Lucian ließ den Russen zu Boden gleiten. Er spürte ein seltsames, scharfes Bedauern. Er hatte sich diesen Mann zum Feind gemacht, ohne es zu wollen. Es kam ihm ungerecht vor, dass Cezlav nun hier lag, ein weiteres von
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