Tore der Zeit: Roman (German Edition)
sich aus der Krone des Turms.
»Vorsicht!«, kreischte Ravenna. Ihre Stimme überschlug sich, denn sie erkannte bereits, dass die Zeit nicht zum Ausweichen reichte. Der Brocken würde mitten zwischen den Schimmeln und ihren Reitern aufschlagen. Nicht einmal Vadym mit seiner mathematischen Hexerei konnte sich dann noch rechtzeitig in Sicherheit bringen.
Der Quader prallte ein- oder zweimal von der Außenwand des Turms ab. Splitter platzten ab und verwandelten sich in scharfkantige Geschosse. Beim letzten Aufschlag sprang der Stein in einem schrägen Winkel vor und stürzte mitten unter die heranpreschenden Reiter.
Ravenna wurde starr vor Entsetzen, als Constantins Apfelschimmel zu Boden ging und überrollt wurde. Eine Masse aus Beinen, Stein und Rüstungsteilen wälzte sich den Abhang hinab, blutiges Gras zurücklassend. Ihr Verstand registrierte, dass das Rennen in diesem Augenblick für beendet erklärt wurde. Sie hörte es am Geschrei und an den Fanfarenstößen. Ihre Füße verhedderten sich fast in den Steigbügeln, als sie absprang, während Willow noch eine kleine Strecke weitergaloppierte. Lucian rannte bereits den Hang hinunter, gefolgt von den anderen Rittern.
Sie hob den Kopf. Mit wehendem Mantel stand der Hexer oben an den Zinnen, ein Schatten gegen das strahlende Blau. Velasco die Krähe. Ihre Blicke begegneten sich, und hinter ihrer Stirn formte sich der schwärzeste Fluch, den sie je ersonnen hatte. Die Sieben umringten das Bauwerk, angeführt von einer zornigen Josce. Als Ravenna erneut ins Licht blinzelte, war Velasco verschwunden.
Der Wind klappte den Pelzkragen auf und drückte ihn gegen ihr Kinn. Die Kamera! Hastig vergewisserte sie sich, ob das Ding noch an ihrem Mantel steckte. Und da war es – ein fingergroßer Zeuge. Hatte sie im richtigen Augenblick nach oben geblickt? Hatte sie aufgenommen, was gerade geschehen war? Ein Mordanschlag am helllichten Tag, während die Menge glaubte, sie sähe ein Pferderennen.
Sie drehte sich um und rannte über die Wiese bergab. Sie folgte der Blutspur, ohne auf das besudelte Gras zu treten. Das Pferd war tot, das erkannte sie sofort. Für Merlin gab es keine Rettung. Der Steinquader hatte eine Reihe tiefer Dellen in den Boden geschlagen. Er ragte ein Stück hangabwärts aus der Wiese. Constantins Füße schauten hinter dem Felsblock hervor. Seine Ritter umringten ihn.
»Mein König«, stieß Lucian hervor. Er sank auf die Knie.
»Mein Junge«, erwiderte Constantin. Er grinste. Dann packte er Lucian am Handgelenk. Zu Ravennas Verwirrung und Erleichterung war der König nicht unter dem Stein eingeklemmt. Bis auf ein paar Schrammen und Prellungen schien er unverletzt zu sein. Trotzdem hatten seine Lippen eine ungesunde Farbe. Wie unreife Pflaumen, dachte sie. Oder wie bei einem Ertrunkenen. Sie kauerte sich hastig nieder und schob die Finger unter seinen Kragen. Der Puls war kaum zu spüren.
»Er hat einen Herzanfall. Verdammt, er stirbt uns hier auf der Wiese weg, wenn wir nichts unternehmen«, rief sie den Umstehenden zu. »Jemand soll Nevere holen!«
Ihre Finger zerrten an Constantins Kragen, sie öffnete Schlaufen und Riemen, um ihm mehr Luft zu verschaffen. Was jetzt?, fragte sie sich. Was musste sie als Nächstes tun? Wie konnte sie helfen, wenn im Mittelalter jemand mit einem Herzinfarkt vom Pferd fiel?
»Wir brauchen Nevere«, schrie sie erneut.
»Wie es scheint, hat mich der Hexer von Carcassonne zuletzt doch erwischt«, keuchte Constantin. »Er war es, dort oben auf dem Turm, nicht wahr? Mein treuer alter Feind. Nun, ganz unerwartet kommt das nicht. Schließlich habe ich ihm den einzigen Sohn genommen. Nicht wahr, Lucian? Schade nur, dass ich an einem so schönen Frühlingstag abtreten muss.« Er blinzelte in den Himmel. Schweißtropfen perlten von seiner Stirn. Er bekam immer schlechter Luft.
»Die Rüstung schnürt die Atmung ein«, stieß Ravenna hervor. »Lucian, hilf mir doch.«
Vergeblich zerrte sie an den Schnallen und Verschlüssen. »Bleibt ruhig liegen«, sagte ihr Ritter zu seinem König, ohne jedoch Hand anzulegen. »Die Sieben sind schon auf dem Weg hierher. Gleich wird Nevere bei Euch sein. Und Ramon mit einer Trage.«
»Nevere? Was soll ich denn mit einer Heilerin? Mir scheint, ich könnte eher Noranis Beistand gebrauchen. Ein sanfter Übergang … du weißt schon.« Constantin klopfte auf Lucians Hand, die auf seiner Schulter lag. »Versprich mir eines, bevor ich abtrete: Lass deinen Vater diese Wette nicht
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