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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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gewinnen.«
    »Herr.« Lucian klang betäubt. Mit erstaunlicher Kraft raffte der König seinen Umhang an der Brust zusammen und zog ihn dicht zu sich heran. Hastig stützte sich der junge Ritter an dem Stein ab.
    »Von allen Kriegern an meiner Tafel … bist du derjenige, dem … die Schwarzkunst niemals etwas anhaben konnte«, stieß Constantin hervor. »Du bist stark, Lucian. Warst es immer schon. Ich verlasse mich auf dich. Hörst du? Ich verlasse mich … Velasco darf nicht siegen.«
    Das Sprechen fiel ihm schwer. Zwischen den Worten entstanden immer längere Pausen. Jegliche Farbe war aus Lucians Gesicht gewichen. Er öffnete den Mund. In diesem Augenblick schien er Constantin alles beichten zu wollen: sein grausames Geheimnis. Seine Verwicklung in die schwarze Magie. Den Verrat an seinem Orden. Bevor er sich ins Unglück stürzte, stieß Ravenna ihn zur Seite.
    »Die Rüstung!«, fauchte sie. »Wir müssen Constantin die Rüstung ausziehen. Nun mach schon. Jede Minute zählt.«
    Der König trug einen Brustpanzer aus Stahl. Das Ding war starr und fest genug, um den Stoß einer Lanze abzufangen. Aber sie konnte auch keine Herzdruckmassage anwenden. Selbst wenn sie sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf stützte: Es würde nichts bewirken.
    Die Umstehenden tuschelten. Anscheinend störten sich die Ritter an den Heilmethoden des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Einem sterbenden König die Rüstung auszuziehen …
    »Atmet er noch? Verflucht, kriegt er überhaupt noch Luft?« Hektisch brachte Ravenna ihr Ohr an Constantins Mund. Kein Atemgeräusch. Der Kreislauf stand still.
    »Nevere!«, brüllte sie erneut.
    Der Blick des Königs richtete sich starr in den Himmel. Seine Beine zuckten in einem unkontrollierbaren Tremor. »Es ist nicht das Herz«, stieß Lucian hervor. »Und selbst wenn es das Herz wäre, käme jede Hilfe zu spät.«
    Ravenna starrte ihn verständnislos an. Da schlug er den Mantel des Königs zur Seite. In den wirren Stofffalten lag Constantins angewinkelter Arm. Er war versteinert.
    Ravenna presste die Lippen zusammen, um nicht aufzuschreien. Das hier war Irrsinn. Absoluter Irrsinn. Sie musterte den Arm mit derselben Aufmerksamkeit, mit der sie verwitterte Statuen begutachtete, die man zur Reparatur in ihre Werkstatt geschafft hatte. Die Konzentration half ihr, nicht den Verstand zu verlieren.
    »Das ist Gneis«, stellte sie fest. Behutsam klopfte sie auf das erstarrte Handgelenk. »Metamorphes Gestein. Wenn kein Wunder geschieht, müssen wir ihm den Arm vermutlich abnehmen.«
    »Es ist zu spät«, widersprach Lucian. »Die Verwandlung breitet sich schon auf seiner ganzen Seite aus.«
    Er hatte recht. Gesteinsadern krochen an Constantins Hals empor, wo die Arterie hätte sein sollen. Seine Augen traten aus den Höhlen. Sie waren weiß wie Marmor. Die Haut fühlte sich kalt und seltsam porös an. Velascos Fluch entfaltete seine furchtbare Wirkung.
    Ravenna hockte im Gras und presste die Hand auf den Mund. Aber sie würde hier nicht weggehen, solange Lucian es nicht tat. Er kniete neben seinem König und hielt dessen Hand. Die Finger erstarrten zu Granit. Dann ertönte ein langer, letzter Atemzug.
    In diesem Augenblick erschien Ramon an der Unglücksstelle. Atemlos warf er die Trage ins Gras. Die Hexen folgten dicht hinter ihm. Nevere hatte ihre Tasche dabei, doch sie ließ die Arzneien ins Gras fallen, sobald sie das Geschehen hinter dem Felsbrocken überblickte.
    »Ist er stabil? Können wir ihn hochheben? Auf die Trage legen?«, keuchte Ramon. »Norani hat gesehen, was passiert ist. Meine Hexe sagt, Velasco habe sich heimlich Zutritt zum Turm der Hexen verschafft. Und er scheint auf demselben Weg wieder verschwunden zu sein. Jedenfalls suchen alle nach ihm – sogar die Russen.«
    Lucian antwortete nicht. Er starrte in Constantins Gesicht. Eine Totenmaske aus Stein … Ravenna lief ein Schauer über den Rücken.
    »Bewegt euch!«, fuhr Ramon seine Begleiter an. »Nun macht schon! Wir können ihn doch nicht hier so liegen lassen. Beeilt euch, macht die Trage fertig.«
    Ravenna stand auf und ging zu ihm. Sie packte seine Hand und drückte so fest zu, dass es wehtat. »Ramon. Ramon, sieh mich an!«
    Er drehte ihr das Gesicht zu. Die Narbe teilte es in zwei Hälften, die eine blind, die andere schön. »Mach Platz, Ravenna! Hier kannst du nichts tun. Warte, bis wir ihn oben im Turm haben. Dann kannst du dich um ihn kümmern. Aber jetzt müssen wir erst mal …«
    »Er ist tot. Der König ist tot,

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